Wer waren meine Vorfahren? Wie sahen sie aus? Wie lebten sie? Und was hat das alles mit mir zu tun? Familienforschung wird immer beliebter. Die Motivation vieler Menschen, die eigenen Wurzeln zu erforschen, führt oft zu interessanten Erkenntnissen über die Verwandtschaft und hat nicht zuletzt Einfluss auf die eigene Identität. Der Trend lässt sich in Zahlen belegen: So gab es in den vergangenen Jahren einen deutlichen Anstieg an Anfragen, so auch beim kirchlichen Archiv der Erzdiözese.
Handschriftliches Ahnenzeugnis: Ein Taufbuch der Pfarrei Ruhpolding
„Unkraut vergeht nicht. Gestern wäre ich fast verschüttet worden.“ Deutlich heben sich die zackigen Buchstaben von dem vergilbten Papier ab, säuberlich und mit schwarzem Füller in der alten deutschen Schrift Sütterlin notiert. Zwischen den Texten sind handgezeichnete Karten und Fotografien in Schwarz-Weiß zu finden. In seinem Tagebuch hat Heinrich Staufer niedergeschrieben, was er im Ersten Weltkrieg an der französischen Front erleben musste. Sein Großneffe Uli Bauer hat das Buch gefunden – und übersetzt.
„Mensch, mit dem bin ich verwandt gewesen“, sagt Bauer, „und der erlebt solche wilden Sachen.“ Sütterlin musste er sich erst beibringen, um an seinen Feierabenden dann zu transkribieren, alte Bilder und Zeichnungen einzuscannen und in einem neuen Dokument zusammenzufügen. „Mir ging es darum, dass sich diese Zeitzeugnisse nicht im Dunkel der Geschichte verlieren, sondern aufbewahrt bleiben“, erklärt der Münchner. Die Kriegserlebnisse seines Großonkels seien schließlich Teil der Familie.
Zu finden ist Großonkel Heinrich auch in Bauers digitalem Stammbaum – ebenfalls Teil seiner Familienforschung. Begonnen hat der 58-jährige Informatiker damit vor sieben Jahren, als seine Tante Hildegard ihm eine Liste mit ihren Vorfahren gegeben hatte. „Wir haben immer schöne Familienfeiern mit ganz vielen Gästen, wo man erst einmal überlegen muss, wer eigentlich wie mit wem verwandt ist“, erzählt Bauer. Das habe ihn angeregt, nach einer geeigneten Methode zu suchen, um diese Verwandtschaftsverhältnisse darzustellen.
Der Hobby-Forscher hat bei sich selbst angefangen und nach und nach die Vorfahren eingetragen, die er noch kannte, und die von der Liste seiner Tante ergänzt. Weitere Personen hat er bei noch lebenden Verwandten erfragt. „So ist das immer größer geworden.“ 320 Personen umfasst der breit verästelte Stammbaum mittlerweile, zurückreichend bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts. Jede Person ist mit Namen, Geburts- und Sterbedatum dargestellt, Frauen rosa hinterlegt, Männer hellblau. Bauer versucht auch immer, ein Foto zu finden – denn „das ist auch ein Hinweis, wie jemand ist oder war“, sagt er. Bauer sammelt die Daten – lebendig werden die Menschen durch die Geschichten, die sein Onkel Paul erzählen kann, oder durch Dokumente wie das Kriegs-Tagebuch.
Digitale Schätze im Diözesanarchiv
Ein anderer Weg, die eigenen Vorfahren zu ermitteln, sind kommunale und staatliche Archive. Oder kirchliche wie das der Erzdiözese München und Freising. Denn schon weit vor der Einführung der Standesämter mussten die Pfarrer Taufen, Trauungen und Beerdigungen dokumentieren, erklärt der stellvertretende Direktor des Diözesanarchivs, Roland Götz. „Und nachdem Altbayern bis um 1800 ausschließlich katholisch war, findet man in dieser Zeit eigentlich jeden und jede in den kirchlichen Büchern.“ Seit 2019 auch online: Millionen von eingescannten Seiten lassen sich auf der Internetseite des Diözesanarchivs finden.
Täglich rufen sie mittlerweile so viele Menschen auf wie vorher pro Monat. Hinter den Nutzern vermutet Götz vor allem Familienforscher. „Wir haben natürlich viel mehr Unterlagen, etwa zur Geschichte der Pfarreien oder dem Kirchenbau. Aber der Trend hin zur Familienforschung ist in den vergangenen Jahren so groß und auch international, dass sich mit Abstand die meisten Anfragen auf die Pfarrmatrikeln konzentrieren.“
Viele Daten sind mittlerweile digitalisiert. Dr. Roland Götz ist stellvertretender Direktor des Archivs.
Ein Grund: Wo vorher ein Besuch im örtlichen Pfarramt nötig gewesen sei, könne man jetzt „von jedem Ort dieser Welt aus kreuz und quer von Pfarrei zu Pfarrei hüpfen“, betont Götz. Die digitale Suche funktioniert unabhängig von Aufenthaltsort und Tageszeit, kostenlos und ohne Anmeldung. Mit „Matricula“ gibt es sogar eine eigene Website für digitalisierte Kirchenbücher. Die Dokumente können also leicht eingesehen werden – entziffern und verstehen muss man die handschriftlichen Einträge dennoch selbst.
Wer allerdings die Anfangsschwierigkeiten überwunden hat, der dürfte die Familienforschung so schnell nicht mehr aufgeben. Weil man merkt: Das hat auch mit mir selbst zu tun. Verbindungen hat auch Hobby-Forscher Bauer gefunden, auch zu lebenden Verwandten. Durch das gemeinsame Interesse an der Familienforschung pflegt er mittlerweile einen guten Kontakt zu Verwandten, die er vorher nur flüchtig kannte. Die digitale Familienforschung ermöglicht es ihnen beispielsweise auch, bereits existierende Stammbäume auszutauschen und den eigenen zu ergänzen.
Mit dem Blick in die Generationen vor ihm entdeckt Bauer auch Parallelen zu seinen eigenen Interessen: die Affinität seiner Ahnen für technische Berufe etwa. Sein Großvater und Onkel waren Architekten, daneben gibt es auch Bauingenieure und Schreiner, und nun eben ihn als Informatiker. Die erkennbaren Gemeinsamkeiten geben Bauer Identität: „Das ist etwas, das offenbar in der Familie liegt.“
Aufschluss über die innere Heimat
Wie sehr Vorfahren die eigene Identität beeinflussen – damit beschäftigt sich auch Monika Heilmeier-Schmittner. Seit 30 Jahren leitet sie Seminare zur Biografiearbeit, in denen sich die Teilnehmer mit dem eigenen Leben in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft auseinandersetzen. „Es geht immer auch um eine Vergewisserung der eigenen Identität“, sagt Heilmeier-Schmittner. „Zugehörigkeit und Einzigartigkeit – das ist die Urfrage von Identität. Was ist bei mir ähnlich? Und was ganz anders?“
Die Großeltern spielen dabei eine wichtige Rolle, das hat die Referentin für Familien- und Persönlichkeitsbildung schon oft festgestellt: „Von ihnen kann man das Gefühl der Zugehörigkeit offensichtlich besser übernehmen als von den Eltern.“ Vermehrt spürt sie bei den Seminarteilnehmern auch das Bedürfnis, sich zu verorten. „In unserer pluralistischen und multioptionalen Zeit braucht es auch das Wissen, wo wir herkommen. Wo wir unsere innere Heimat haben.“ Dabei besonders wichtig: der Blick zurück in die Generationen.
Text: Hannah Wastlhuber, Volontärin Sankt Michaelsbund, März 2022
Archiv und Bibliothek
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Prof. Dr. Johannes Merz
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