"Da ist Kino wie Kirche" Regisseur Karsten Hinrichs über die Entstehung des Dokumentarfilms "Incoming"

Der Dokumentarfilm „Incoming – Der Himmel und seine Grenzen“, entstanden auf Initiative der Abteilung Weltkirche der Erzdiözese München und Freising, zeigt auf berührende Weise die Erfahrungen von fünf ecuadorianischen Freiwilligen, die für ein Jahr im Erzbistum gelebt und gearbeitet haben. Regisseur Karsten Hinrichs erzählt im Interview von der Entstehung seines Films und was ihn bei der Premiere am 21. Mai 2023 in München überrascht hat.
 
Regisseur Karsten Hinrichs und der ecuadorianische Freiwillige David Castillo bei den Dreharbeiten zu "Incoming" in Attl
Regisseur Karsten Hinrichs und der ecuadorianische Freiwillige David Castillo bei den Dreharbeiten zu "Incoming" in Attl
Herr Hinrichs, was verbindet Sie mit der katholischen Kirche?

Karsten Hinrichs: Von Hause aus erstmal nicht viel, denn für meine Eltern, die beide aus evangelischen Elternhäusern kamen, war Religion nicht so wichtig. Der Katholizismus war mir aber nie fremd; ich habe schon seit der Kindheit die Mystik, das Unbekannte und das Unerklärliche geschätzt. 2010 geriet ich in eine Lebenskrise, und meine Frau riet mir, den Jakobsweg nach Santiago de Compostela zu wandern. Ich lief zweieinhalb Monate als echter Pilger, der nicht einfach nur wandert, sondern auch in die Kirchen geht und betet. So anstrengend und entbehrungsreich dieser Weg war, er hat mir gut getan. Und es gab mir den Anstoß, mich katholisch taufen zu lassen.
 
Wie kam der Kontakt zur Erzdiözese zustande?

Karsten Hinrichs: Der Pfarrer, der mich in Freising getauft hat, hatte mitbekommen, dass die Abteilung Weltkirche 2012 zum 50-jährigen Bestehen der Partnerschaft des Erzbistums mit Ecuador diese filmisch festhalten wollte. Und da er wusste, dass ich mit einer Ecuadorianerin verheiratet und Filmemacher bin, ist er auf mich zugekommen. Damals hatte ich noch sehr wenig Erfahrung und habe noch viel ausprobiert – am liebsten würde ich den Film heute noch einmal drehen. Das ungenutzte Material haben wir dann noch für eine kleine Web-Serie genutzt, und die war dann schon besser.
 
Für Ihren neuen Dokumentarfilm „Incoming“ mussten also einfach die bestehenden Kontakte aktiviert werden...

Karsten Hinrichs: Sebastian Bugl, der Leiter der Abteilung Weltkirche, hat mich angerufen und mir erzählt, dass im Rahmen des „Incoming“-Freiwilligenprogramms fünf junge Menschen aus Ecuador ins Erzbistum kommen würden. Die erste Idee war, aus Aufnahmen, welche die Fünf mit ihren Handys machen würden, einen Film zusammenzuschneiden. Davon sind wir dann schnell abgekommen, nachdem die Freiwilligen nur ab und an etwas gefilmt haben. Stattdessen sollte ich eine 60 Minuten lange Dokumentation auf Fernsehfilm-Niveau drehen.
 
Das Team vor und hinter der Kamera des Dokumentarfilms "Incoming" im Gruppenfoto
Das Team vor und hinter der Kamera
Bekamen Sie inhaltliche Vorgaben?

Karsten Hinrichs: Nein, ich war völlig frei. „Wir wollen deinen Blick, deine Ehrlichkeit und keine PR“, meinte Sebastian Bugl. Ob und wie Kirche vorkommt, war mir ebenfalls überlassen.
 
Wie bewusst ist Ihre Entscheidung gewesen, Kirche nur am Rande oder indirekt vorkommen zu lassen?

Karsten Hinrichs: Ich denke, dass Bilder von Gottesdiensten und Menschen in liturgischer Kleidung nur noch wenig über die gesamtgesellschaftliche Relevanz der Kirche erzählen. Bei Zuschauerinnen und Zuschauern, die der Kirche gleichgültig bis skeptisch gegenüber stehen, ruft das sogar eher Abwehrreaktionen hervor. Umgekehrt lohnt es sich, vieles zu zeigen, wofür die Kirche darüber hinaus noch steht und wofür sie sich einsetzt, da überhaupt mal den Blick zu öffnen und zu weiten. Dass die Erzdiözese diese fünf jungen Menschen nach Deutschland einlädt, gehört dazu. Die Freiwilligen lernen hier bei uns andere Menschen kennen und lassen sich nicht mehr so leicht in das „die und wir“ ausspielen – die Welt wächst zusammen. Da steckt dann auch „Liebe deinen Nächsten“ drin.
 
Wie sind Sie das Ganze organisatorisch angegangen?

Karsten Hinrichs: Ich habe mich entschlossen, dass die Basis des Films längere Interviews mit den fünf Freiwilligen bilden sollten, die ich aus Kostengründen nur als Audio aufnahm und nicht jeweils die Kamera mitlaufen ließ. Ausschnitte aus diesen insgesamt 20 Stunden langen Interviewaufnahmen habe ich dann den Bildern unterlegt. Die Gedanken und Aussagen der Fünf, die wirklich intelligente, wache und vielschichtige Personen sind, die bisher bei allen Zuschauerinnen und Zuschauern zu absoluten Sympathieträgern geworden sind, verleihen den Bildern eine weitere, faszinierende und nachdenklich stimmende Dimension.
 
Regisseur Karsten Hinrichs im Interview mit dem ecuadorianischen Freiwilligen David Castillo
Regisseur Karsten Hinrichs (r.) im Interview mit David Castillo
Waren die Freiwilligen unbefangen vor der Kamera?

Karsten Hinrichs: Ja, wobei sicherlich auch geholfen hat, dass ich Spanisch spreche und ihr Land und ihre Probleme kenne – das hat das Eis schnell gebrochen. In einem Zoom-Call vor Beginn der Dreharbeiten habe ich klar gemacht, dass ich nichts inszenieren würde. Als zum Beispiel die ersten vier der Freiwilligen am Münchener Flughafen ankamen, habe ich zuerst gefilmt, bevor ich sie dann auch begrüßte – der Moment sollte unverfälscht frisch bleiben. Die Interviews während ihres Aufenthalts haben dann die Vertrauensbasis noch weiter gestärkt.
 
Mit welcher Intention haben Sie die Interviews geführt?

Karsten Hinrichs: Die Fünf sollten ehrlich und tiefergehend über das sprechen, was sie berührt oder bedrückt und sich nicht nur dafür bedanken, was für eine Ehre es ist, in einem fremden Land empfangen zu werden, wie es ganz zu Beginn ihr Impetus war. Als sie merkten, dass wirklich ihre Meinungen und Empfindungen gefragt waren, haben sie sich nach jedem Interview sogar bedankt – vielleicht, weil sie da Gelegenheit hatten, über Dinge zu sprechen, die sie sonst niemandem sagen konnten.
 
Wonach haben Sie, der Sie nicht 365 Tage nonstop bei allen fünf Freiwilligen filmen konnten, entschieden, was sie aufnehmen?

Karsten Hinrichs: Caroline Auer und Angela Hernández-Soto vom Fachbereich Freiwilligendienst der Erzdiözese, die die Fünf während ihres Dienstes intensiv begleitet haben, machten mir Vorschläge, an welchen Tagen und zu welchen Zeiten es sich lohnen würde, mit der Kamera präsent zu sein. Der rote Faden sollte die „Begegnung mit dem Neuen“ sein. Natürlich bot sich dafür die Ankunft in Deutschland an, der erste Ausflug in die Münchner Innenstadt und der erste Arbeitstag an den Einsatzstellen. Hier habe ich Paola Tarco in der Münchner Bahnhofsmission begleitet, David Castillo in der Einrichtung für Menschen mit Behinderung Attl in Wasserburg am Inn und Wilmer Romero in der Jugendsiedlung Hochland in Königsdorf. David Zurita im Jugendhaus Schwabing und Jorge Ponce in der Kolping Mittagsbetreuung in Poing konnte ich nicht an deren ersten Tag begleiten, aber kurz danach.

In Schwabing war es mit den Dreharbeiten am schwierigsten, weil ich wegen der dort betreuten Kinder nicht in der Einrichtung selbst drehen konnte, sondern nur „drumherum“, zum Beispiel wie David für das Mittagessen einkauft. Danach bin ich im Abstand von jeweils einigen Monaten wieder zu Ihnen zurückgekehrt, beispielsweise zu Weihnachten, und habe natürlich ihren Abschied gefilmt.
 
Dreharbeiten zu "Incoming" auf einem Acker in Attl mit dem ecuadorianischen Freiwilligen David Castillo und Regisseur Karsten Hinrichs
Dreharbeiten auf einem Acker in Attl mit David Castillo und Regisseur Karsten Hinrichs an der Kamera
Hatten Sie eine Vorstellung, in welche Richtung sich Ihr Film mit seiner „Botschaft“ entwickeln würde?
 
Karsten Hinrichs: Es ist für mich während der Dreharbeiten absolut nicht vorherzusehen gewesen, was passieren wird. Was wenn einer der Fünf zusammenbricht, früher die Koffer packt und heimfliegt? Was wenn einer die Arbeitsstelle wechselt? Natürlich habe ich während des Jahres mit dem gedrehten Material schon zu arbeiten begonnen, es arrangiert und damit auch dramatisiert. Was dabei klar wurde, war, dass das Ganze über eine 60-minütige Auftragsarbeit hinaus geht und eine Produktion für die große Leinwand ist. Sebastian Bugl hat sich darauf eingelassen, als ich mich überzeugt zeigte, dass der Film fürs Kino geeignet sein würde.
 
Was ist die größte Herausforderung dieser Produktion gewesen?

Karsten Hinrichs: Sicherlich die Auswahl und das Ordnen des gedrehten Materials. 20 Stunden Audioaufnahmen, fünf Handlungsbögen zusammenzubringen – das ist wahnsinnig komplex gewesen. Allein alles zu sichten, brauchte viel Zeit.
 
Gibt es Szenen, die Sie selbst berühren?

Karsten Hinrichs: Jede Menge, besonders die mit Paola an Heilig Abend in der Bahnhofsmission und dem Gottesdienst in der Bahnhofshalle. Für mich selbst ist Heilig Abend ein ganz besonderer Tag, mit viel Vorfreude und dem Gefühl verbunden, dass es immer stiller wird und man im Familienkreis zusammen ist. Und nun war das für Paola und mich ein sehr anstrengender Tag, da ich sie von frühmorgens in der U-Bahn bis zum Schluss ihrer Schicht abends in der Bahnhofsmission nach dem Austeilen der letzten Lebensmittelspenden begleitet habe. Als sie abends dann da sitzt und sichtbar müde in ihre Wurstsemmel beißt, sieht man, wie viel sie um die Ohren hat.
 
Kameraaufbau im Kofferraum eines Autos
Kamera-Aufbau im Kofferraum
Wie haben Sie die Premiere Ihres Films im Mathäser-Kino erlebt?

Karsten Hinrichs: Das Mathäser bietet natürlich einen professionellen Rahmen – tolles Bild, bei dem uns die Projektionisten noch geholfen haben, guter Ton, 200 Zuschauerinnen und Zuschauer. Kino ist etwas anderes als eine Ausspielung auf YouTube: Es wird dunkel im Saal und still, alle konzentrieren sich auf das Geschehen vorne – da ist Kino wie Kirche. Ich war zu dem Zeitpunkt sehr erschöpft, weil ich so viele Sachen in Personalunion gemacht habe: Drehbuch, Regie, Kamera, Schnitt und Musik. Während der Vorstellung habe ich das Publikum vom Rande her betrachtet, um die Reaktionen zu beobachten. Das ist wirklich der Lohn für einen Filmemacher, wenn er sieht, dass die Zuschauerinnen und Zuschauer mitgehen, lachen und – wie hier – auch mal weinen.

Nach dem Ende der Vorstellung hat Kardinal Reinhard Marx gemeint, es sei bewegend, die Entwicklung der fünf Freiwilligen nachzuvollziehen, aber es stimme auch nachdenklich, wenn man sehe, wie sie – und das will unser Filmtitel ja auch ausdrücken – an Grenzen stoßen: An ihren Arbeitsstellen, in ihren Gastfamilien und im Alltag.

Nach dem Filmgespräch mit mir auf der Bühne sind ganz viele Menschen noch auf mich zugekommen. Ich hatte mir schon gedacht, dass der Film bewegen würde, denn er funktioniert auf so vielen Ebenen – auf einer spirituellen, auf einer soziologisch-ökonomischen oder als persönliche Entwicklungsgeschichte. Anders als eine erklärende Reportage lässt er vieles offen und macht das Leben in der Tiefe all seiner Emotionen spürbar. Aber es hat mich dann doch überrascht, wie viele noch einmal inhaltlich über das Gesehene und ihre Gefühle darüber reden wollten.

Trailer zu "Incoming"

Filmvorführung mit Nachgespräch


Plakat des Dokumentarfilms "Incoming"
Dokumentarfilm "Incoming - Der Himmel und seine Grenzen"
Der Freisinger Filmemacher Karsten Hinrichs begleitete fünf ecuadorianische Incoming-Freiwillige während ihres Einsatzjahres 2021/2022 mit der Kamera. Die Protagonisten ließen sich dabei mit außergewöhnlicher Offenheit in ihr Leben, fernab der Heimat, blicken.
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