Sich mit der eigenen Vergangenheit zu beschäftigen, kann die Sicht auf das eigene Leben nachhaltig verändern. Biografiearbeit verfolgt genau diesen Ansatz. Die Methode lenkt den Blick gezielt auf Erlebtes und eröffnet Menschen dadurch neue Entwicklungschancen. Auch im Erzbistum wird die Methode in unterschiedlichen Bereichen genutzt.
Bilder aus früheren Zeiten: Der Blick in die eigene Vergangenheit kann helfen, erlebte Verletzungen oder Defizite neu zu bewerten und sie anzunehmen.
Bedrückende Erlebnisse, die man am liebsten vergessen möchte, kennt fast jeder Mensch aus seinem eigenen Leben. Andererseits gibt es auch Ereignisse, die im guten Sinne prägend waren: etwa das Kennenlernen des späteren Partners oder der Partnerin, die Geburt eigener Kinder oder auch berufliche Erfolge. Mit dieser ganzen Bandbreite an Erlebnissen beschäftigt sich die Biografiearbeit. Die Methode ist im kirchlichen Bereich in der Arbeit mit Seniorinnen und Senioren wichtig geworden, aber nicht nur dort.
Vielfältige Einsatzmöglichkeiten
Hubert Klingenberger, Dozent und Coach
„Biografiearbeit ist der ressourcenorientierte Blick in die Vergangenheit, um die Gegenwart gestalten und die Zukunft entwerfen zu können“, definiert Hubert Klingenberger den Begriff. Der 60-Jährige ist einer der Pioniere der Biografiearbeit und bildet seit 25 Jahren Interessierte darin aus. Damit begonnen hat er Ende der 1990-er Jahre als Referent des Kardinal-Döpfner-Hauses (heute Domberg-Akademie) in Freising. Seit 2011 ist er freiberuflicher Dozent und Coach.
Klingenberger weiß: „Man kann mit Biografiearbeit beginnen, sobald das sogenannte autobiografische Gedächtnis ausgebildet ist. Das ist etwa im sechsten Lebensjahr der Fall.“ Biografiearbeit kann man also auch mit Kindern praktizieren. Die SOS Kinderdörfer arbeiteten mit dieser Methode, um Kindern den Zugang zu ihren Wurzeln zu ermöglichen. Aber auch im beruflichen Coaching gibt es Einsatzmöglichkeiten für die Biografiearbeit. Arbeitgeber, die die Methode zielgerichtet in der Personalentwicklung einsetzen, können ihren Mitarbeitenden dadurch signalisieren, dass sie sie wertschätzen und halten wollen. Klingenberger, promovierter Pädagoge, der auch Soziologie und Psychologie studiert hat, hat dabei einen privaten österreichischen Altenheimbetreiber vor Augen. „Dort gibt es für Mitarbeitende Unterstützungsmaßnahmen, die zu deren jeweiliger Biografie passen. Zum Beispiel Einkaufsdienste für Mütter, damit diese gleich nach der Arbeit heimfahren und sich um ihre Familie kümmern können.“ Eine echte Hilfe angesichts immer agilerer Lebensläufe.
Entwicklungsperspektive auch für alte Menschen
Adelheid Widmann, Seniorenpastoral
Adelheid Widmann, Leiterin der Abteilung Seniorenpastoral im Erzbischöflichen Ordinariat München, setzt ebenfalls Biografiearbeit ein und hat auch andere in dieser Methode qualifiziert. Für eine qualitätvolle Begleitung der Menschen müssen Biografiearbeitende neben Wissen und Erfahrung eine hohe Bereitschaft zur Selbstreflexion mitbringen. Die Theologin weiß, dass gerade ältere Menschen das Bedürfnis nach einer „Re-Vision de vie“ hätten, nach Rückblick und teilweiser Neubewertung des Lebens, wie es bereits Karl Rahner formuliert habe. „Der Blick auf die gelebten Jahre birgt die Chance, manches im Leben noch einmal anders zu interpretieren, sich vielleicht mit etwas zu versöhnen, eine Verbitterung loszulassen, Schmerzliches anzunehmen. Das kann sehr erlösend und heilvoll sein“, erklärt Adelheid Widmann. Biografiearbeit könne bei dieser „Re-Vision de vie“ unterstützen.
Adelheid Widmann hat beispielsweise einmal eine ältere Frau begleitet, die selbst unter ihrer „Buchhalterseele“ gelitten habe. „Mit ihrer Genauigkeit ist sie in Familie und Freundeskreis oft schmerzlich angeeckt. Und sie hat selbst bedauert, dass sie einfach nicht aus ihrer Haut heraus konnte“, erinnert sich die Theologin. Durch viele Gespräche auch mit Impulsen aus der Biografiearbeit konnte die ältere Dame dann nach und nach tatsächlich loslassen und das annehmen, was war. „Ich habe das einige Male in Begleitungen erlebt, dass das in den letzten Lebensjahren gelang“, erklärt Adelheid Widmann. Auch 86- und 94-Jährige hätten noch eine Entwicklungsperspektive.
Hilfreich bei der Begleitung von Paaren und Familien
Elisabeth Dreyßig, ehemalige Familienberaterin
Elisabeth Dreyßig, die vor ihrem Eintritt in den Ruhestand die katholische Ehe-, Familien- und Lebensberatung im Landkreis Erding geleitet hat, kennt die Bedeutung einer sensiblen Rückschau auf Lebensereignisse ebenfalls. Die promovierte Beraterin schätzt die Biografiearbeit, auch wenn sie in der Ehe-, Familien- und Lebensberatung nicht immer ausdrücklich unter diesem Begriff eingesetzt wird. Es lohne sich jedoch, in die Vergangenheit zu schauen und dort nach Ursachen für bestimmte Verhaltensmuster zu suchen und dann gemeinsam Lösungswege zu entwickeln. „Eine ganz große Verletzlichkeit in der Beziehung kann Anlass sein, in der Biografie nachzuschauen. Ich habe öfter erlebt, wenn jemand sehr verunsichert war und genau hinterfragt hat, was der Partner, die Partnerin tut, dann hat das nicht selten damit zu tun, dass der Mann oder die Frau als Kind nicht genügend Aufmerksamkeit von den eigenen Eltern bekommen haben“, erinnert sich Elisabeth Dreyßig.
Durch Biografiearbeit könnten sich Menschen mit solchen erlebten Defiziten versöhnen. „Aber manchmal braucht es dazu wirklich einen langen Weg“, gibt Elisabeth Dreyßig zu bedenken. Je früher und je traumatisierender Erfahrungen gewesen seien, desto länger dauere die Bearbeitung. „Es reicht nicht, sich nur der Zusammenhänge bewusst zu werden, nach dem Motto: Ah, jetzt habe ich es verstanden, Haken dahinter. Dem ist leider nicht so“, weiß die Beraterin. Manchmal brauche es über längere Zeit hinweg Begleitung oder auch Therapie, um ein traumatisches Erlebnis auflösen zu können.
Das Erlittene bewältigen
Seit Januar 2022 engagiert sich Elisabeth Dreyßig in der Anlauf- und Beratungsstelle für Betroffene von sexuellem Missbrauch in der Erzdiözese München und Freising. Nicht alle Menschen, die Missbrauch erfahren hätten, könnten das Erlittene bewältigen. Einige hätten zu einem für sie befriedigenden Leben finden können, aber bei anderen sei das trotz langer Therapien nicht möglich gewesen. „Deshalb ist die Prävention so wichtig, damit man Kindern viel früher dabei hilft, eigene Grenzen wahrzunehmen und gut zu wahren.“
Text: Gabriele Riffert, freie Redakteurin, Oktober 2022