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Blickt man in die biblischen Texte, so erscheint „Befreiung“ als eines der entscheidenden Motive göttlichen Handelns. Der Exodus, die göttliche Befreiung aus dem Sklavenhaus Ägypten, ist bis heute der zentrale Ankerpunkt einer jüdischen Identität und prägt ebenso unseren christlichen Glauben. Auch die Verkündung der Zehn Gebote und der weiteren Weisungen des Volkes Israel am Berg Sinai wird begründet mit der Selbstbezeichnung Gottes als Befreier. Der Sinn des Gesetzes ist, diese göttliche Befreiungstat auf Dauer zu stellen und Freiheit für alle Mitglieder des Volkes Gottes zu gewährleisten. In der innerbiblischen Logik ist das auch der Grund, warum gerade in den Prophetenbüchern die Einhaltung der Gesetze – nicht in erster Linie ihrem Buchstaben, sondern ihrem Sinn nach – mit der Forderung nach Gerechtigkeit verbunden wird: Gott verpflichtet sein Volk zu einem Verhalten, das seinem eigenen Handeln entspricht. Das gilt sowohl für die eigene Gemeinschaft, als auch nach außen. Immer wieder wird gerade im Umgang mit sozial Benachteiligten und Fremden vehement darauf hingewiesen: „Denkt daran, dass auch ihr Sklaven in Ägypten gewesen seid!“ (Dtn 16,15; 19,33; 24,18 und öfter).
Ein befreiendes Leben für alle – das ist Ziel der Rechtsordnung Israels und das ist auch Inhalt der zentralen Botschaft Jesu vom Reich Gottes im Neuen Testament. Und, ganz im Sinne der berühmten Spannung zwischen dem schon angebrochenen Reich und seiner noch ausstehenden Vollendung, ist die Befreiungsbotschaft auch bei Jesus nicht (nur) Vertröstung auf ein Jenseits, sondern in gleicher Weise Aufforderung für das Diesseits. Denn in der Nächstenliebe zeigt sich die Gottesliebe: „Was ihr dem Geringsten getan habt, das habt ihr mir getan!“ (vgl. dazu am besten die gesamte Gerichtsrede Jesu in Mt 25).
Die Enzyklika Laudato Si’ macht dabei deutlich: „Alle anderen“ endet nicht an den Grenzen des MenschSeins. Denn: „Alles in der Welt ist mit allem verbunden, und unsere gemeinsame Pilgerschaft zu Gott anerkennt die Liebe, die er jeder Kreatur entgegenbringt, und vereint uns mit diesen Geschöpfen.“ (LS 92) Auf dem gemeinsamen Weg zu Gott geht es um die Befreiung der ganzen Schöpfung. Nicht umsonst waren es „Befreiungstheologen“ die als erste die christliche Herausforderung erkannten, die in der Zerstörung der Umwelt durch die Menschheit liegt, nicht nur in den daraus entstehenden Ungerechtigkeiten gegenüber Menschen weltweit oder in zukünftig lebenden Generationen, sondern auch in der Missachtung der Heiligkeit, der Gottunmittelbarkeit und des Gewollt-Seins der ganzen Schöpfung. Der Auftrag, den Jesus seinen Jüngern beim letzten Abendmahl gab „Wie ich euch geliebt habe, so sollt auch ihr einander lieben“ (Joh 13,23) kann so nur verstanden werden als Aufruf zu einem Lebensstil, der befreit: einer Befreiung von Ungerechtigkeiten, einer Befreiung von Gewalt und Krieg, von Wachstumszwang und Gier zur Macht, eine Befreiung der Schöpfung vor Ausbeutung.
Nicht jeder will freilich befreit werden. Schon das Volk Israel ereiferte sich immer wieder gegen Mose ob der Schwere des Weges durch die Wüste (vgl. Ex 14ff.). Noch mehr gilt das für unser heutiges Wirtschafts- und Gesellschaftssystem, in dem oft die Freiheit des Einzelnen über alles gestellt und zugleich selbst ausgebeutet wird: „Ausgebeutet wird alles, was zu Praktiken und Ausdrucksformen der Freiheit gehört, wie Emotion, Spiel und Kommunikation.“ (Byung-Chul Han: Psychopolitik, Frankfurt a. M. 2014). Befreiung ist also zweifellos kein Spaziergang, oft ist es sogar einfacher in der „selbstverschuldeten Unmündigkeit“ oder einer nur scheinbaren Freiheit zu verharren. Denn eine Roadmap durch die Wüste oder ein „Navi“ gibt es auch heute nicht. Zumindest einen ersten hoffnungsvollen Wegweiser aber finden wir wiederum in Laudato Si’.
Literaturtipp:
Misereor (Hg.): Wer Mut sät, wird eine andere Welt ernten. 44 ermutigende Beiträge für eine bessere Zukunft, München 2016.