MK: Welche Gefühle haben Sie bewegt, als das Zweite Vatikanum am 8. Dezember 1965 beendet wurde?
Gruber: Ich kann mich noch sehr gut an diesen sonnigen Spätherbsttag erinnern, der Petersplatz war voll von Menschen. Es war eine große Freude darüber zu spüren, dass das Konzil so viel erreicht und Fragen beantwortet hat, die sich schon seit langem gestellt hatten – von der Aufklärung her, von der Naturwissenschaft, der modernen Welt insgesamt, aber auch aus dem Innenraum der Kirche, von der Liturgie über die Frömmigkeit bis zum geistlichen Leben in der Welt von heute.
MK: Wie sah Ihr Arbeitsalltag als Sekretär von Kardinal Döpfner aus?
Gruber: Oft bis in die Nacht musste ich Vorlagen für den Kardinal mit der Maschine schreiben, die er als Frühaufsteher dann ab fünf Uhr gelesen hat. Noch vor Konzilsbeginn habe ich dann die Reinschrift gemacht, Computer gab es ja damals noch nicht. Danach haben wir zusammen mit der Kommunität des Germanicums die Messe gefeiert und gefrühstückt. Später fuhr Bruder Friedbald den Kardinal mit dem Münchner Mercedes in den Vatikan. Dann wurde es etwas ruhiger, ich habe Besucher empfangen, Telefonate mit München erledigt oder den nächsten Tag vorbereitet. Nach den Sitzungen beim Mittagessen war der Kardinal meist ziemlich still und auch geschafft, aber im Mienenspiel konnte man doch einiges ablesen. Am Nachmittag gab es Gespräche mit deutschen Professoren oder anderen Bischöfen und viel Arbeit am Schreibtisch. Abends saßen wir öfter mit der Hausleitung bei einem Glas Wein zusammen, und an freien Tagen haben wir gern ausgedehnte Bergwanderungen unternommen, auch mit den Studenten.
MK: Welche Erinnerungen haben Sie an Professor Joseph Ratzinger, der als Berater des Kölner Kardinals Josef Frings am Konzil mitwirkte?
Gruber: In meiner Fotosammlung habe ich ein schönes Bild mit den beiden Professoren Joseph Ratzinger und Karl Rahner, der den Wiener Kardinal Franz König beraten hat. Rahner wohnte bei uns im Kolleg. Da gingen viele Gutachten hin und her, die deutsche Sprachgruppe trat recht einheitlich auf. Wir waren sehr froh, dass Joseph Ratzinger, den ich schon aus Freising kannte, unter den Konzilsberatern war, da er eine aufgeschlossene, menschliche und auch sprachlich gut verständliche Theologie vertrat.
MK: Den für die Gläubigen spürbarsten Einschnitt setzte das Konzil mit der schon früh verabschiedeten Liturgie-Konstitution. In letzter Zeit ist die daraus entstandene Liturgiereform wieder stärker in die Kritik geraten. Wo liegen die Verdienste der Erneuerung, wo haben Sie Bedenken?
Gruber: Jüngere Theologen können die Verdienste viel weniger nachvollziehen als wir Ältere. Die Liturgiereform hat gerade durch die Muttersprache und die Konzentration aufs Wesentliche ungeheuer viel vorwärts gebracht, weil die Menschen so in der Liturgie und den heiligen Zeichen viel unmittelbarer die Verbindung mit Gott spüren können. Auch die besten Reformen können überzogen werden, aber das war nicht vom Konzil gewollt.
MK: Die Kirchen-Konstitution »Lumen gentium« stellte den Begriff vom »Volk Gottes unterwegs« heraus, der die gemeinsame Verantwortung aller Glaubenden betont. Kritiker von heute beobachten mancherorts eine zunehmende Klerikalisierung. Was halten Sie denen entgegen?
Gruber: Dass diese Klerikalisierung nicht im Sinne des Konzils ist. Es geht wie gesagt von der Volk-Gottes-Idee als zentraler Kategorie aus, wobei dabei anderes nicht unter den Tisch fallen darf. Aber im Vordergrund steht die Berufung aller und der Heilswille Gottes, der alle Menschen retten will. Die verschiedenen Ämter und Aufgaben in der Kirche sind von der gleichen Würde aller aus zu sehen. Als wesentliches Element der Weihe hat das Konzil übrigens den Dienst-Charakter des geistlichen Amtes herausgestellt.
MK: Das Konzil hat die Fenster der Kirche in die Welt geöffnet. In der Pastoral-Konstitution »Gaudium et spes« revidiert die Kirche eine ganze Reihe von alten Positionen und setzt auf Dialog. Wie kann man das heute wieder bewusst machen?
Gruber: Es ist selbstverständlich geworden, dass sich der Christ nicht nur gegen alle möglichen Versuchungen der Welt wehren muss, sondern dass er die Aufgabe hat, die Welt im Sinne Christi mitzugestalten. Es war eine absolute Neuigkeit in der Kirchengeschichte, dass sich die Kirche so ausdrücklich und positiv mit der Welt befasst. Die Fragen drehten sich damals etwa um Krieg und Frieden oder das persönliche Gewissen. Aber da darf man das Konzil nicht einfach als Gebrauchsanweisung lesen, man muss die Grundsätze von damals auf die Fragen von heute übertragen.
MK: Die zuletzt verabschiedete theologische Konsititution über die Offenbarung legt unter anderem Wert auf eine auch wissenschaftlich vertretbare Bibel-Interpretation. Was hat das Konzil für das Miteinander der Konfessionen und Religionen gebracht?
Gruber: Die Konstitution »Verbum Dei« hat eine bewegte Geschichte. Da gab es zunächst eine sehr traditionelle Vorlage und viele Debatten. An dieser Stelle hat Johannes XXIII., übrigens das einzige Mal, ins Konzil eingegriffen und eine neue Vorlage angeregt, auch weil er den damals noch ganz jungen ökumenischen Dialog gefährdet sah. Das Konzil hat viele Schranken geöffnet und das Gemeinsame betont, bei aller Klarheit des eigenen Standpunkts.
MK: Sowohl fortschrittliche als auch eher bewahrende Kirchenleute berufen sich gern auf den »Geist des Konzils«. Wie würden Sie als Zeitzeuge diesen Geist beschreiben?
Gruber: Was das Konzil ausgezeichnet hat, war eine Bewegung von innen her, das Erbe Christi zu wahren und diesen Schatz für unsere Zeit fruchtbar zu machen. Der Wille zur Gemeinsamkeit, auch bei verschiedener Auffassung aufeinander zuzugehen, das war überwältigend. Dazu kommt die Bereitschaft, Menschen in Not zu helfen. Den Menschen in seiner Würde und Gottebenbildlichkeit zu sehen, war auch der Schwerpunkt der Predigt von Papst Paul VI. am 8. Dezember 1965.
Interview: Johannes Schießl
Prälat Gerhard Gruber, der frühere Generalvikar der Erzdiözese, war Konzilssekretär von Kardinal Döpfner.
(Der Text erschien erstmals im Dezember 2005 in der Münchner Kirchenzeitung)