Abgesehen von meiner Beschneidung würde ich mit niemandem auf der Welt meine Kindheit tauschen wollen. In New York, wo ich jetzt lebe, ist zwar überall vom Wert der Familie die Rede, doch ich habe hier kaum etwas davon entdeckt. Ich kenne keine einzige Familie, die so zusammenlebt, wie wir es taten, die gemeinsam singt, sich freut und lacht. Die Menschen hier leben vereinzelt, sie empfinden sich nicht als Angehörige einer Gemeinschaft.
Ein weiterer Vorzug, in Afrika groß zu werden, bestand darin, dass wir Teil der Natur, des unmittelbaren Lebens waren. Ich habe dieses Leben kennengelernt und zwar nicht abgeschirmt davon. Es warf das wirkliche Leben, nicht irgendein künstlicher Ersatz aus dem Fernsehen, wo ich anderen Menschen dabei zusehe, wie sie ihr Leben leben. Vom ersten Atemzug an besaß ich den Instinkt, der zum Überleben notwendig ist. Und ich lernte Freude ebenso schnell kennen wie den Schmerz. Ich merkte, dass Glücklichsein nicht an Besitz gebunden ist, weil ich nie etwas besaß, aber dennoch sehr glücklich war. Die schönste Zeit in meinem Leben war, als wir alle, meine Familie und ich, zusammen waren. Ich weiß noch, wie wir an manschen Abenden nach dem Essen um das Feuer saßen und über jede Kleinigkeit lachen konnten. Und wenn der Regen kam und das Leben neu geboren wurde, feierten wir das als Fest.
Als ich in Somalia aufwuchs, schätzten wir die einfachen Dinge des Lebens sehr hoch. Wir feierten den Regen, weil er bedeutete, dass wir Wasser hatten. Wen in New York kümmert schon das Wasser? Man lässt es einfach aus dem Hahn laufen, während man sich in der Küche mit etwas anderem beschäftigt. Es ist immer vorhanden, wenn man es braucht. Man muss nur an einem Griff drehen, und schon fließt es heraus. Erst wenn man etwas nicht hat, lernt man, es zu schätzen, und da wir überhaupt nichts hatten, schätzten wir alles hoch.
Meine Familie musste jeden Tag darum kämpfen, genügend Nahrung aufzutreiben. Einen Sack Reis zu erstehen, bedeutete für uns ein riesiges Glück. Wer aus einem Land der Dritten Welt hierher, in die Vereinigten Staaten, kommt, kann nur staunen über die Menge und die Vielfalt an Nahrungsmitteln. Wir traurig, dass hier so viele Menschen vor allem damit beschäftigt sind, möglichst nicht zu essen. Auf der einen Seite des Globus kämpfen wir darum, die Menschen mit Nahrung zu versorgen. Auf der anderen Seite zahlen Leute Geld dafür, dass sie abnehmen. …
Heute lerne ich wieder, den Wert der einfachen Dinge zu schätzen. Immer wieder begegne ich Menschen, die ein wunderschönes Haus oder sogar mehrere besitzen, dazu Autos, Jachten und Juwelen, aber nur an eines denken: noch mehr zu besitzen. Als würde ihnen das nächste Ding, das sie kaufen, endlich Glück und Zufriedenheit schenken. Ich brauche keinen Diamantring, um glücklich zu sein. […]
Und noch knapper als Geld ist Zeit. Keiner hat Zeit. […] Die Straßen sind voller Leute, die hin und her hetzen und hinter Gott weiß was herjagen.
Ich bin wirklich dankbar, dass ich beide Lebensformen kennenlernen durfte, den einfachen und den eiligen Weg. Aber ich wüsste nicht, ob ich ohne meine afrikanische Herkunft das einfache Leben genießen gelernt hätte. Meine Kindheit in Somalia hat meine Persönlichkeit geprägt und mich davor bewahrt, Banalitäten wie Erfolg und Ruhm – denen so viele Leute nachzujagen scheinen – allzu ernst zu nehmen.
Waris Dirie, Wüstenblume, München 2007, S. 341ff.
Waris Dirie, geboren in einer Nomadenfamilie in Somalia, flüchtete vor der geplanten Zwangsheirat und gelangte über verschiedene Stationen nach New York, wo sie ein erfolgreiches Fotomodell wurde.