Es geschah einmal, dass in einem Schoß Zwillingsbrüder heranwuchsen. Die Wochen vergin-gen, und die Knaben wuchsen heran. Sie begannen, die Welt zu entdecken und die Nabel-schnur, die sie mit der Mutter verband.
Als aber schon Monate vergangen waren, bemerkten sie plötzlich, wie sehr sie sich verändert hatten. „Was hat das zu bedeuten?“, fragte der eine. „Das bedeutet“, sagte der andere, „dass unser Aufenthalt in dieser Welt bald zu Ende geht.“ „Aber ich will gar nicht gehen“, sagte wie-der der Erste. „Wir haben keine Wahl“, entgegnete der andere, „aber vielleicht gibt es ja ein Leben nach der Geburt.“ „Aber wie soll das gehen“, fragte wieder der Zweifelnde, „wenn wir unsere Lebensschnur verlieren? Und außerdem hat nie jemand diesen Mutterschoß verlassen und ist wieder zurückgekommen, um zu sagen, dass es weiterginge. Nein, die Geburt ist das Ende!“
Und er fiel in tiefen Kummer und sagte: „Wenn die Empfängnis mit der Geburt endet, welchen Sinn hat dann das Leben im Schoß? Womöglich gibt es gar keine Mutter hinter allem!“ – „Aber sie muss existieren“, protestierte der andere, „wie sollten wir sonst hierhergekommen sein?“ – „Hast du je unsere Mutter gesehen?“, fragte wieder der Zweifelnde, „vielleicht haben wir sie nur erdacht, um unser Leben besser zu verstehen!“ Und so waren die letzten Tage im Schos der Mutter voller angst und Fragen. Schließlich kam der Moment der Geburt. Als die Zwillinge ihre Welt verlassen hatten, öffneten sich ihre Augen. Sie schrien vor Freude. Was sie sahen, übertraf ihre kühnsten Träume.
aus: Nosrat Peseschkian, Glaube an Gott und binde dein Kamel fest. Warum Religion unserer Seele gut tut. Stuttgart, Kreuz-Verlag, 2008