(Münchner Kirchenzeitung vom 29.04.2018)
Wer hat’s erfunden? Nein, die Schweizer waren es natürlich nicht, obwohl folgendes Motto traditionell für das Bündnis der Eidgenossen verwendet wird und es die Idee der Solidarität trefflich beschreibt: „Einer für alle, alle für einen.“ Manche erinnern sich an diesen Slogan aus der Verfilmung des Romans „Die drei Musketiere“ von Schriftsteller Alexandre Dumas. Damit verbinden wir den mutigen Kampf für die gerechte Sache, den bedingungslosen Einsatz für die Freunde sowie Loyalität, Opferbereitschaft und Treue. Der Solidaritätsbegriff lässt sich herleiten vom lateinischen „solidum“. Es bedeutet, auf festem, gemeinsamen Boden stehen. Wir kennen „solidum“, wenn etwas solide gebaut ist oder jemand einen soliden Lebenswandel führt. Solidarität braucht grundsätzliche Gleichheit, deshalb haben wir für das Verhältnis zu Tieren andere Begriffe. Solidarität gibt es zwischen Personen, etwa in Familien, innerhalb von Institutionen, wie bei Krankenkassen, oder beim Zusammenschluss von Staaten. Vieles ist nur mit vereinten Kräften möglich und wird dann leichter, besser, schöner. Trotz der aufkeimenden Zentrifugalkräfte und gegen den Trend zum Individualismus hat der Begriff Konjunktur. Er avanciert zum Synonym für sozial, gerecht oder moralisch. Solidarität ist gut, lautet die simple Botschaft. Und sobald eine Sondersteuer mit diesem Terminus verknüpft wird, kann die Zwangsabgabe gar nicht so schlimm sein. Denn wir alle wollen doch gut sein – oder eben solidarisch. Dass aber nicht jede Solidargemeinschaft positiv zu bewerten ist und nicht jeder Schulterschluss einen guten Grund und ein verantwortbares Ziel hat, machen wir uns oft nicht bewusst. Dabei können Terrororganisationen, Mafiaclans oder extrem nationalistische Vereinigungen ebenso solidarisch im Innern der eigenen Gruppe agieren wie eine Klostergemeinschaft oder ein Pfadfinderstamm. Was also macht Solidarität zu einem Schlüsselbegriff der katholischen Soziallehre? Welche Kriterien müssen erfüllt sein, um von einem christlichen Prinzip sprechen zu können? Zur Beantwortung dieser Fragen lohnt es, in die Sozialenzyklika „Solicitudo rei socialis“ (SRS) von 1987 zu blicken. Johannes Paul II. hat dort die christliche Position dargestellt und dabei seine Erfahrung mit der polnischen Gewerkschaft Solidarność eingearbeitet. Ohne Orientierung an der Menschenwürde, das heißt ohne die Zuwendung insbesondere zum Schwachen, Kranken, Rechtlosen oder Notleidenden und ohne die beabsichtigte Verbesserung der Lebens-, Arbeits- und Umweltbedingungen aller Menschen ist christliche Solidarität nicht denkbar. Deshalb gehört auch die gemeinwohlfördernde Funktion der Gerechtigkeit in ihr Konzept. Eine egoistische Fokussierung auf die eigene Gruppe, die die „Einheit des Menschengeschlechts“ (SRS, 40) aus den Augen verliert, ist abzulehnen. Nur wenn prinzipiell alle im selben Boot sitzen, lässt sich universale Solidarität verwirklichen. Gleichzeitig müssen jedoch die kleineren Solidarstrukturen in ihrer Eigenfunktion erhalten bleiben, weil sie wesentlich näher an den Mitmenschen dran sind und manches sogar besser können als große Organisationen. Solidarität ist also weit mehr als nur ein romantisches Gefühl der „Vielheit als Einheit“. Sie bewährt sich vor allem, wenn es mühsam wird und die Gemeinschaft einiges abverlangt – ob in der Ehe, der EU oder in der Kirche. Einfach abhauen, ist keine angemessene Option. Erst in der Krise entfaltet sich der ethische Imperativ: Haltet zusammen!