Braucht’s das?
Echtes Brauchtum hat sehr viel zu tun mit dem Herzen, aber durchaus auch mit dem Verstand. Es dient der individuellen und kollektiven Identität, dem inneren Zusammenhalt einer Gruppe und vermittelt das Gefühl von Heimat und Geborgenheit. Gerade jetzt im Advent werden allerorten unterschiedlichste Bräuche gepflegt. Dabei hat jedes Land, jede Region, ja beinahe jede Familie ganz spezifische Besonderheiten entwickelt.
Nicht alle Rituale sind gleichermaßen sinnvoll und nachvollziehbar. Manches ist sehr tiefgründig und geht ans Gemüt, einiges ist humorvoll und skurril, anderes geradezu schrill, laut und aufdringlich. Zwischen frommen Weihnachtsbräuchen und kommerzialisiertem Kitsch tun sich oft regelrechte Schluchten auf. Was die einen lustig finden, überschreitet bei anderen die Grenzen des guten Geschmacks. Leider spielt Alkohol schon und gerade bei jungen Brauchtumspflegern eine große Rolle, so dass die Auswüchse des gelegentlich allzu wilden Treibens die gute Idee einer Tradition in ihr Gegenteil verkehren.
Keine Angst, hier soll nicht zum wiederholten Mal die groteske und exzessive Eventkultur unserer Gegenwart gegen die Gemütlichkeit der fälschlicherweise oft beschworenen staaden Zeit gestellt werden. Diese Kritik kennen wir. Sie hat gewiss ihre Berechtigung, aber der moralische Zeigefinger langweilt auch. Dennoch ist es manchmal hilfreich, wenn wir an den Ursprung eines Brauches gehen und daraus den eigentlichen Sinn für heute neu erschließen. Das kann durchaus kreativ und spannend sein.
So könnten wir bei unserer Recherche einen alten Brauch entdecken, der leider aus der Mode gekommen zu sein scheint, obwohl er in seiner Schlichtheit wirklich sehr schön ist. Kennen Sie beispielsweise das „Strohhalmlegen“? Es handelt sich dabei um einen Adventskalender ganz anderer Art. Denn es wird nichts hinter einem Türchen herausgenommen, vielmehr wird jeden Tag etwas in eine am 1. Adventsonntag noch leere Krippe hineingelegt. Jedes Kind darf einen Halm in das künftige Bettchen des Jesuskindes legen, wenn es eine gute Tat vollbracht hat. Auf diese Weise wird das Neugeborene am Hl. Abend dann auf eine möglichst weiche Unterlage gebettet, um die Härte des Holzes und die Hartherzigkeit der Menschen abzufedern. Es ist gewissermaßen der Gegenentwurf eines Halloweenrituals, bei dem das rein eigennützige Einfordern von Süßigkeiten im Mittelpunkt steht – also Nehmen statt Geben.
Beim Strohhalmlegen geht es nicht um großes Brimborium oder kollektiven Spaß, sondern um die Besinnung auf das Wesentliche unseres Glaubens – auf die Liebe und ihre oftmals kleinen Zeichen. Gott ist im Kleinen zu uns gekommen. Deswegen können auch wir im Kleinen zu ihm kommen. Advent, Ankunft ist eine wechselseitige Bewegung aufeinander zu. Wir können Christus sicherlich nicht begegnen, wenn wir den Mitmenschen ausklammern. Sollte das nicht gerade auch für uns Erwachsene gelten? Warum fangen nicht auch wir an, mit etwas Phantasie unsere ganz persönlichen Strohhalme in die Krippe zu legen, damit die Welt ein bisschen besser wird?
Aber brauchen wir, um Gutes zu tun, tatsächlich den winzigen Stubser über ein Ritual? Manche vielleicht nicht, vielen aber hilft es. Deshalb meine ich, ja, diesen Anstoß braucht’s und momentan besonders. Bescheren wir dem Christuskind also eine weiche und friedliche Weihnacht. Und hören wir dann nicht auf mit den guten Taten, selbst wenn die Krippe längst wieder im heimischen Keller steht.