Erinnerung an den Papst-Rücktritt vor einem Jahr
Es wäre unredlich, das Lebenswerk von Papst Benedikt XVI. auf seinen Abschied zu reduzieren, aber die Art und Weise seines Rücktritts nötigt mir höchsten Respekt ab. Er ist nicht aus dem Amt geflohen, als der Sturm der Krisen und Skandale am stärksten wütete, sondern er ging als die Wogen sich etwas geglättet hatten. Wenn ein Papst aus Altersgründen, aber noch im Vollbesitz seiner geistigen Fähigkeiten zurücktritt, ist das ein beispielloses historisches Ereignis. Die Bedeutung des Petrusamtes wird dadurch keinesfalls relativiert, aber der übernatürliche Nimbus des „Stellvertreters Christi“ verliert durch die Erkenntnis, dass es sich bei dem Amtsinhaber tatsächlich um einen Menschen mit all seinen Begrenzungen handelt, seine dogmatische Überhöhung. Ein noch so bedeutendes Amt kann beendet werden, wenn ein Mensch autonom entscheidet, dass für ihn die Zeit gekommen ist. Damit ist aus meiner Sicht eine weitere Botschaft verbunden, nämlich dass Traditionen keinem Selbstzweck dienen dürfen. Ausflüchte gegen dringend notwendige Reformen und Neuerungen in der Kirche werden sich künftig schwer tun, wenn sie mit folgenden Floskeln eingeleitet werden: „Das hat es noch nie gegeben. Das kann und darf es in der Kirche nicht geben. Das widerspricht unserer über Jahrhunderte bewährten Tradition.“ Vernünftige Argumente in Freiheit vorgetragen, statt starrem Beharren auf vermeintlich sakrosankten Traditionen – auch diese Botschaft verbinde ich mit seinem Rücktritt. Sie gibt mir Hoffnung für unsere momentan schwierige innerkirchliche Situation. Auch für diese Hoffnung danke ich unserem bayrischen Papst. Sein Rückzug in die Kontemplation machte seinem Nachfolger erst den Weg frei, den Dienst in Kirche und Welt mit neuem Schwung und viel Esprit gehen zu können und auf eine so erfrischende und gewinnende Art und Weise Tradition und Innovation klug und liebenswürdig miteinander zu verbinden.