Bahnsteigbetrachtungen
Ärgerlich, man sieht sie noch, die Rücklichter der ausfahrenden S-Bahn. Deshalb notgedrungen entschleunigt am Bahnsteig sitzend, fallen einige Zeitungsüberschriften förmlich ins Auge. Da steht, dass die Zahl der Firmenpleiten in Bayern angesichts einer guten Auftragslage sinkt. Ferner sucht die IHK noch Lehrlinge, obwohl sich durch den doppelten Abiturjahrgang bereits viele Abiturienten unter den Azubis befinden. In Deutschland kann die Nachfrage nach qualifizierten Arbeitskräften weiterhin kaum gedeckt werden. Der Arbeitsmarkt in und um München boomt. Das ist an diesem Tag wohl das übereinstimmende Fazit der Wirtschaftsnachrichten im Lokalteil. Die Fachleute sprechen von einer „gefühlten Vollbeschäftigung“ im Speckgürtel Münchens. Eigentlich schön, wenn trotz Eurokrise so viele gute Meldungen aus der heimischen Wirtschaft kommen.
Mitten in die positiven Überschriften aber schiebt sich urplötzlich eine andere Beobachtung ins Blickfeld des Wartenden. Eine Frau, keineswegs schäbig gekleidet, durchwühlt die Mülleimer am Bahnsteig. Sie hat nichts verloren oder versehentlich weggeworfen, denn immer häufiger kann man dergleichen sehen. Armut oder lediglich Zubrot? Geht es um Pfandflaschen oder auch um Essbares? Schließlich stellte doch neulich erst eine Untersuchung fest, dass wir hierzulande fünfzig Prozent unserer Nahrungsmittel einfach wegwerfen, auch wenn sie noch nicht verdorben sind. Wohlstandsmüll wird längst nicht mehr nur in Flohmärkten verhökert oder in Wertstoffhöfen entsorgt. Warum wird so viel gekauft und dann als unnötiger Ballast empfunden? Und warum können andererseits Menschen inmitten unserer Gesellschaft legitime materielle Bedürfnisse nicht befriedigen? Müllmenschen in der wohlhabenden Stadt – Absurdität oder Realität?
Lassen wir uns durch abstrakte Statistiken den Blick nicht vernebeln auf konkrete materielle Not. Auch in unserer Erzdiözese, nicht zuletzt in München, gibt es von Armut betroffene Menschen. Es gibt Langzeitarbeitslose, die trotz aller Bemühungen keine berufliche Perspektive mehr finden und ganz allmählich in die Armut abrutschen. Im statistischen Vergleich ist ihre Zahl vielleicht gering, aber Demokratie bedeutet eben nicht das Recht der Stärkeren und das Recht der Mehrheit, sondern Demokratie zielt ab auf Hilfe für den Schwächeren und Schutz der Minderheiten. Gerade deshalb passen die Ideen der Demokratie so gut zu unseren christlichen Idealen. Als Christen wie als Demokraten brauchen wir den geschärften Blick auf die besonderen Bedürfnisse unseres konkreten Mitmenschen. Er nimmt uns in die Pflicht. Die kirchlichen und die staatlichen Sozialeinrichtungen helfen uns, dieser Pflicht gerecht zu werden. Gott sei Dank haben wir dieses soziale Netz. Das ist die eigentlich positive Wirtschaftsnachricht.