Ein Urteil setzt Maßstäbe (Kolumne von Martin Schneider)
Zunächst waren sich die Kommentatoren einig: Das Urteil des Bundesverfassungsgerichtes zur Hartz IV-Politik hat eine grundsätzliche Bedeutung. Vor allem dass darin ein „Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums“ formuliert worden ist, wird hervorgehoben. Und was sagen die Politiker? Viele begrüßen das Urteil. Nicht wenige betonen aber auch seine Grenzen. Die Umsetzung des Urteils dürfe nicht zu viel kosten, so die Finanzpolitiker. Andere warnen gar vor einer Demoralisierung der Gesellschaft. Sie haben Angst, dass das Leistungsprinzip untergraben würde, wenn die Hartz IV-Sätze angehoben werden. Sie verweisen auf das Lohnabstandsgebot und rufen in Erinnerung: „Wer arbeitet, muss mehr in der Tasche haben als der, für den die Gemeinschaft aufkommt.“ Dieser Grundsatz ist nicht falsch. Doch warum wird immer nur die eine Seite des Lohnabstandsgebots betrachtet? Warum wird immer nur darauf geachtet, dass die Regelsätze für Hartz IV-Empfänger ja niedrig genug sind? Warum wird nicht die andere Seite des Lohnabstandsgebots in den Blick genommen? Ist es nicht ein Armutszeugnis für unsere Gesellschaft, wenn es Menschen gibt, die sich den ganzen Tag abrackern, am Ende aber nicht genug zum Leben haben? Das Problem ist doch nicht, dass die Regelsätze für Hartz IV-Empfänger zu hoch werden könnten. Das Problem ist, dass in unserem Land ein neues Proletariat entstehen konnte, eine Klasse von „working poor“, das heißt von Menschen, die arm sind, obwohl sie arbeiten. Eine Demoralisierung unserer Gesellschaft droht nicht durch die Anhebung von Hartz IV-Sätzen. Schon gar nicht, wenn wir Kindern das zugestehen, was sie zum Leben und für die Bildung brauchen. Eine Demoralisierung der Gesellschaft geht vielmehr von denjenigen aus, die Arbeitnehmer, die Arbeit haben, gegen Arbeitnehmer, die keine Arbeit haben, gegeneinander ausspielen. Das Traurige daran ist, dass nicht verstanden wurde, warum das Bundesverfassungsgericht ein Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums formuliert hat. Die Geltung eines Grundrechts kann nicht einfach mit Verweis auf zu hohe Kosten und den Lohnabstand eingeschränkt werden. Ein Grundrecht gilt unbedingt. Es gilt unbedingt, weil es das schützt, was die Würde eines Menschen fordert. Die Geltung eines Grundrechts darf daher nicht von finanziellen Überlegungen abhängen, schon gar nicht von geplanten Steuersenkungen. Sie muss sich an dem orientieren, was dem Menschen als Menschen zukommt. Jeder Hilfebedürftige muss, so das Bundesverfassungsgericht, das erhalten, was für seine physische Existenz und für ein Mindestmaß an gesellschaftlicher Teilhabe unerlässlich ist. Dieses Urteil fordert von der Politik vor allem eines: Demut. Demut vor dem Grundgesetz, Achtung vor der Menschenwürde, so eine große deutsche Wochenzeitung. Dem ist nichts hinzuzufügen.