Zeit der Solidarität - Zeit der Klärung
Wie oft wurde es wiederholt: das Attentat vom 11. September sei nicht nur gegen Amerika gerichtet. Der Anschlag treffe uns alle. Der SPD-Fraktionsvorsitzende im Bundestag brachte es noch mehr auf den Punkt: in diesen Tagen seien wir alle Amerikaner.
Das ist die Sprache der Solidarität. Die "Anteilnahme" am Leid der Anderen, der "Beistand" und das "Beileid" in schwerer Stunde sind Ausdruck einer tief verwurzel-ten Mitmenschlichkeit. Sie mussten auch angesichts des Leids der Menschen und der Verletzung der amerikanischen Gesellschaft bei allen, die nicht abgestumpft oder verblendet sind, aufbrechen. Mögen die Gesten der Anteilnahme, die in nächt-lichen Gebeten, in brennenden Kerzen und in Blumengebinden sichtbar wurde, auch flüchtig sein, und mag die normale Tagesordnung zu rasch von uns allen Besitz ergreifen - dass die solidarische Bewegung in dieser Breite möglich war, und dass jedenfalls in Deutschland entgegen früheren Zeiten des RAF-Terrors sich nirgendwo "klammheimliche Freude" zeigte, ist ein wichtiger Vorgang.
Es gab in diesen Wochen eine zweite Solidaritätswelle, eine Art vorbeugender Soli-darität, und zwar mit den Muslimen. Kaum ein Präsident und kaum ein Bischof, der nicht ein gutes Wort für unsere muslimischen Nachbarn gefunden hätte. In den Ge-betshäusern und Moscheen gaben sich hohe und einfache Besucher die Klinke in die Hand. Es herrschte die nicht unbegründete Sorge, einige könnten sich auf die Suche nach einem Sündenbock machen und die Solidarität mit den Amerikanern könnte in eine Solidarisierung gegen die Muslime umschlagen. Auch diese Form solidarischen Beistands war wichtig, damit die Besonnenheit die Oberhand behielt.
Und doch: Spontane Solidarität mit den Getroffenen und Bedrohten kann nicht in der Vorbehaltlosigkeit der ersten Tage stehen bleiben. Sie muss sich wandeln zu ei-ner nicht besserwisserischen, aber kritischen Begleitung. Die Solidarität mit den amerikanischen Freunden verbietet nicht die Frage, wie man die Initiatoren des Terrors fassen will, ohne das Elend der Unschuldigen noch einmal zu vervielfachen, welchen Weg man einschlagen will, um nicht die Mehrheit der Muslime in die Fänge der radikalen Islamisten zu treiben. Und die Solidarität mit den Muslimen in unserem Land darf die Frage an sie nicht ausblenden, ob sie nicht viel stärker den sich religiös gebärdenden Terror als Signal für einen internen Klärungsprozess verstehen müssten. Zutiefst geht es um die Herausforderung, wie die Muslime ihre religiöse Identität in der Beliebigkeit einer säkularen Umwelt bewahren können, ohne die Grundlagen und Grundwerte der offenen, demokratischen Gesellschaft als fremd und feindlich abzulehnen.