Nicht hochnäsig, aber wachsam
Dass die so genannte Kruzifixentscheidung des Bundesverfas-sungsgerichts vom 16. Mai 1995 zum sozialen Frieden unserer Gesellschaft beigetragen hätte, wird niemand behaupten können. Die Minderheit der Verfassungsrichter stimmte für das Kreuz im Klassenzimmer, weil es das Zeichen einer christlich geprägten Kultur sei. Die Mehrheit jedoch betonte, das Kreuz entfalte gegenüber den Kindern unausweichlich eine missionarische Wir-kung. Dies sei in der staatlichen Schule für nichtchristliche Kinder unzumutbar.
Blickt man auf die Jahre zurück, war das Gerichtsurteil eher eine Ermutigung zur Intoleranz und dazu, den Kampf gegen das Christentum mit „missionarischem“ Eifer in die Schule zu tra-gen. Die Zahl entsprechender Vorstöße hielt sich dennoch in Grenzen. Umso heftiger waren die Reaktionen, als vor kurzem gemeldet wurde, die Delegiertenkonferenz einer politischen Partei habe die Parole „Kreuze–raus-aus-der-Schule“ in ihr Wahlprogramm geschrieben. Die Führung der Partei hat das ganze als Missverständnis bezeichnet, das einer missglückten Formu-lierung entsprang. Im Herbst will man den Text revidieren. Wir werden sehen.
Szenenwechsel. Auf dem Gelände der dritten Start- und Lande-bahn des Flughafens im Erdinger Moos wurde vor kurzem als Zei-chen des Widerstands ein Kreuz aufgerichtet. Das Kreuz als In-strument des politischen Kampfes um eine Standortentscheidung? Verbindet sich damit ein Bekenntnis zu Christus? Oder ist das nur ein weiteres Beispiel dafür, welch unterschiedliche Bedeutungen das Kreuz in der säkularisierten Gesellschaft annimmt? Wir müssen wohl unterscheiden. Die Selbstbekreuzigung des auf-laufenden Einwechselspielers einer beliebigen Fußballelf hat immerhin noch den Sinn eines Segenszeichens. Eine religiöse Reminiszenz ist auch das Kreuzeszeichen in Familienwappen, Amtssiegeln und Staatsflaggen. Als Zeichen des Gedenkens fin-den wir das Kreuz an den Unfall- und Sterbeorten entlang der Bundesstraßen. Als Hoffnungszeichen legen wir es in die starren Hände der Toten. Der Wallfahrer trägt das Kreuz als Symbol der Lebenslast auf seinen Schultern. Die Rettungsdienste des Roten Kreuzes und der Malteser haben es nicht zufällig in ih-ren Emblemen. Und selbst dort, wo das Kreuz zum modischen Ac-cessoire wird, welches das Model auf dem Laufsteg trägt, hat es den Charakter eines Amuletts zur Schadensabwehr oder eines glücksbringenden Talismans und partizipiert letztlich doch an der christlichen Vorstellung des heilbringenden Kreuzes.
Wir Christen sollten diesen teils religiösen, teils religions-fernen Ausdrucksformen christlicher Kultur nicht hochnäsig be-gegnen, sondern als Anknüpfungspunkte verstehen, um immer wie-der auf die Kernbedeutung des Kreuzes zu verweisen. Wir soll-ten aer auch wachsam sein gegenüber dem Missbrauch des Kreuzes.