Was ist ein „gerechter Lohn“?
Eine uralte und doch hochaktuelle Frage. Wer diese Frage auch nur aufwirft, begibt sich auf vermintes Gelände. Er befindet sich mitten im Kampf der Interessen und der Ideologien.
Das kann einzig und allein der Markt regeln, sagen die einen, also das Spiel von Angebot und Nachfrage. Solange sich Leute finden, die für 3 Euro in der Stunde arbeiten, sind 3 Euro der gerechte Lohn - sagen die Verfechter einer freien, ungebundenen Marktwirtschaft.
Gerecht ist der Lohn, welcher der Arbeitsleistung entspricht, sagen andere. Das ist ja kein schlechtes Argument. Schwierige, hohe Qualifikation erfordernde und gefährliche Arbeit verdienen eine höhere Entlohnung als einfache Tätigkeiten. Wenn jemand mehr Verantwortung trägt, muss sich das auch im Lohn niederschlagen. Damit kann man sicher Unterschiede in der Entlohnung begründen, aber wohl nicht die objektive Höhe der Entlohnung. Sind die 2 Millionen Gehalt für einen Wirtschaftsführer oder 2000 Euro für eine Krankenschwester Ausdruck einer unangreifbaren Leistungsgerechtigkeit? Und was ist, wenn für die Leistung eines hochqualifizierten Geologen oder Archäologen nur wenig Nachfrage besteht, so dass sie sich vielleicht mit dem Lohn eines Hilfsarbeiters zufriedengeben müssen. Wovon sprechen wir, wenn wir von Leistung reden? Es scheint, dass doch wieder alles darauf zurückfällt, wie unser Beitrag bei der Erstellung von Gütern und Dienstleistungen auf dem Markt bewertet wird.
Nun gibt es noch die reinen Pragmatiker. Sie lassen sich auf so schwierige Fragen wie Leistungs- oder Wettbewerbsgerechtigkeit gar nicht ein. Gerecht ist für sie das, was vereinbart wird. Was im Arbeitsvertrag steht, ist gerecht, weil es auf einer freien Übereinkunft zwischen Arbeitsnehmer und Arbeitgeber beruht. Das war auch das Argument vor 117 Jahren, als Papst Leo der XIII. das erste soziale Rundschreiben (Rerum novarum) verfasste. Nein, sagte Papst Leo, wenn der Arbeiter „sich aus reiner Not … den allzu harten Bedingungen beugt, so heißt das Gewalt leiden. Die Gerechtigkeit erhebt gegen einen solchen Zwang Einspruch.“
Aber nicht genug, der Papst nennt einen weiteren Maßstab für den gerechten Lohn: Der Arbeiter hat ein natürliches Recht darauf, mit seiner Hände Arbeit seinen Lebensunterhalt zu bestreiten.
Damit sind wir mitten im heutigen Streit um den gerechten Lohn angelangt. Zugespitzt wird er über die Mindestlöhne geführt. Solange die Tarifparteien Löhne für alle ausgehandelt haben und die Löhne damit dem wirtschaftlichen Wettbewerb entzogen waren, war die Frage nach dem gerechten Lohn entschärft. Im Tarifvertrag haben sowohl die Belange des Marktes als auch die Anerkennung der Leistung und schließlich auch die Existenzsicherung der Arbeitnehmer und ihrer Familien eine Chance.
Heute, wo nicht wenige Unternehmen aus den Arbeitgeberverbänden ausscheren und viele Arbeitnehmer von Gewerkschaften nicht mehr erreicht werden, ist die Frage nach dem gerechten Lohn wieder voll entbrannt.