Die andere Seite der Solidarität
Ein mittleres Beben erschüttert die Republik. Die Steuerbe-hörden sind wohlhabenden Bürgern auf der Spur, die ihr Geld an der Steuer vorbei in einer Liechtensteiner Bank angelegt haben. Mit über tausend Ermittlungsverfahren rechnet die Bundesregierung. Freilich, was jetzt ans Licht der Öffent-lichkeit kommt, ist nur die Spitze des Eisbergs. Denn allein im Fürstentum Liechtenstein gibt es nicht nur diese eine Bank, auf die sich jetzt die Blicke richten.
Die Reaktionen: Das System der sozialen Marktwirtschaft sei in Gefahr, sagen hohe Politiker. Der Wirtschaftsstandort Deutschland werde in Mitleidenschaft gezogen, befürchten Vertreter der Unternehmensverbände. Der Ruf nach schärferen Strafen für Wirtschaftsdelikte wird laut. Aber im Grund wirft der Vorgang ein Schlaglicht auf den moralischen Zu-stand unserer Gesellschaft.
Jahrelang haben wir darüber diskutiert, wie viel Sozialstaat wir uns noch leisten können. Wir haben diese Diskussion schnell auf eine moralische Ebene gehoben: Ein Anspruchsden-ken habe sich breit gemacht in Deutschland. Zu viel Solida-rität habe die Eigeninitiative bei nicht wenigen gelähmt. Sie lade geradezu ein, sich auf staatliche Hilfe zu verlas-sen, ja sozialstaatliche Zuwendungen missbräuchlich in An-spruch zu nehmen. Die viel gebrauchte Formel lautete: mehr Eigenverantwortung statt Solidarität.
Was sich jetzt darbietet, entlarvt die vorherrschende Dis-kussion der letzten Jahre in ihrer Einseitigkeit. Wir müssen das Soziale auch in eine andere Richtung „neu denken“.
Jedes Gemeinwesen lebt aus den Potentialen, die seine Mit-glieder in die Gemeinschaft einbringen. Das ist die andere Seite der Solidarität. Sie verpflichtet alle. Es wirkt aber auf die moralischen Einstellungen und Handlungsmotive in der Gesellschaft besonders verheerend, wenn deren Leistungsträ-ger sich ihren solidarischen Pflichten entziehen. Die Leis-tungsfähigen im Land müssen eigentlich wissen, dass sie ihre Leistungskraft nicht allein aus sich selber haben, sondern vielfältigen „Vorleistungen“ der Familie, des Kindergartens, der Schulen und Universitäten, kurz der Gesellschaft verdanken. Sich dessen bewusst zu sein, lehrt uns, dass jeder von uns immer schon in einem solidarischen Verbund stand und steht - und dass dies eine nach Leistungsfähigkeit unter-schiedliche soziale Verpflichtung begründet.
Geht dieses Bewusstsein in unserer Gesellschaft verloren? Wie soll in einer solchen Gesellschaft, in der das Gespür für das sozial Verpflichtende abhanden kommt, die Bereit-schaft für das Freiwillige, Ungeschuldete und Ehrenamtliche wachsen? Hier zeichnet sich die vielleicht größte moralische Herausforderung ab, vor der unsere Gesellschaft in den nächsten Jahren stehen wird.