Kein Platz
Die ganze Republik ist aufgestört. Grund der Erschütterung sind die Fälle von Kindstötung im schleswig-holsteinischen Darry, im vogtländischen Plauen und früher bereits in Bremen und anderen Orten. Der Tatort: die eigene Familie, die eigentlich dem Kind Heimstatt und Geborgenheit geben soll, in der es, wie unsere Psychologen sagen, das Urvertrauen gewinnen soll. Ist also, nachdem der Mutterschoß seiner Symbolkraft als Inbegriff der Geborgenheit beraubt wurde, auch der „Schoß“ der Familie zu einem gefährlichen Ort geworden?
Die Politiker, von der Gewalt in der Familie alarmiert, überlegen, wie der Staat das Gedeihen der Kinder in der Primärgruppe Familie besser überwachen könnte, durch regelmäßige, zur Pflicht gemachte frühkindliche Untersuchungen oder durch das Zusammenspiel von Hebammen, Kinderkrippen und -gärten, Jugendämtern und Beratungsdiensten. Es ist ein schwieriges Handlungsfeld der Politik. Wie sollen staatliche Instanzen und gesellschaftliche Dienste rechtzeitig diejenigen unterstützen, die es nötig haben, und wie sollen sie rechtzeitig eingreifen können, ohne die Intimität des Familienlebens von Hunderttausenden zu stören und das Erziehungs- und Sorgerecht der Eltern einem Generalverdacht zu unterwerfen.
Wechseln wir die Blickrichtung und versuchen wir, uns in die Lage des Kindes zu versetzen. Es sind offensichtlich nicht wenige Kinder, die alles entbehren, was Kinderglück ausmacht, für die es keinen Platz gibt: keinen Platz im Leben gestresster Väter oder psychisch überforderter Mütter, keinen Platz in der Beziehung ihrer Mutter mit einem neuen Partner. Es gibt Kinder, die, bereits bevor sie geboren sind, in der Lebensplanung ihrer Eltern nicht vorkommen.
Das sind alles keine tröstlichen adventlichen Überlegungen. Die Weihnachtsgeschichte kennt zwar auch die knappen Worte, dass für die schwangere Mutter Jesu und für ihrem Mann Joseph „kein Platz“ in der Herberge war, so dass der Neugeborene in einer Krippe Platz finden musste. Aber hier tröstet uns, dass er von der Liebe Marias und Josephs umfangen ist – und von der Wärme der Tiere im Stall, wie uns die fromme Legende erzählt. Woher aber schöpfen wir Trost, wenn zu den misslichen Verhältnissen auch noch die fehlende Liebe hinzukommt.
"Kindelein im Stroh, macht uns froh" ... wird in diesen Tagen zu einer sehr sperrigen Liedzeile. Dieser Blickwinkel macht uns aber zugleich deutlich, dass wir uns einer Forderung mit aller Radikalität stellen müssen: den Kindern im eigenen Leben und im Leben der Gesellschaft Raum zu geben.