Begnadete Menschen
Fast jeden Rom-Pilger, der die herrliche Rotunde des Pantheon aufsucht, führt der Weg an das Grab Raffaels. Bereits mit 37 Jahren waren seine Kräfte aufgezehrt. Doch sein Werk ist gewaltig und genial. Ganz Rom trauerte um ihn. Selbst der Papst saß an seinem Steinsarg, um weinend noch einmal nach der begnadeten Hand des Malers zu greifen.
Wir alle haben bereits begnadete Menschen erlebt. Wir kommen wie betäubt aus dem Kon-zertsaal, weil wir eben das begnadete Spiel der Geigerin Anne-Sophie Mutter erlebt haben. Wir sprechen vom begnadeten Dichter. Er verwendet keine anderen Wörter als wir. Aber er verfügt über eine Sprache, die uns die Welt neu erschließt. Wir bewundern den begnadeten Denker, der scheinbar mühelos Zusammenhänge aufzeigt und in äußerster Klarheit Gedan-ken an Gedanken reiht. So könnten wir fortfahren und weitere Beispiele benennen: den be-gnadeten Redner, den genialen Fußballkünstler, dem seine Ballfertigkeit bereits in die Wiege gelegt worden sein muss.
Oder warum lassen im April 2005 Hunderttausende alles liegen, um nach Rom zu eilen und sich gleichsam persönlich von Johannes Paul II. zu verabschieden? Warum reißt der Strom der Pilger am gläsernen Sarg von Johannes XXIII. nicht ab? Wir verneigen uns vor begnade-ten Menschen. Wir suchen die Nähe von Menschen, die uns reicher machen, die ein Licht in unser manchmal tristes und eintöniges Leben werfen.
Es mag sein, dass die Kirche das Fest Allerheiligen aus diesem Grund an den Anfang des meist tristen, grauen November gelegt hat - ein Fest, an dem vieler begnadeter Menschen zugleich gedacht wird, all derer, die Helligkeit und Glanz in die Welt gebracht haben (in der lateinischen Kirche wurde übrigens Allerheiligen als Fest der Jungfrau Maria und aller Märtyrer zum ersten Mal im Pantheon gefeiert, als der Kaiser im Jahr 609 den Tempelbau der Kirche übergab). Und den ganzen November über reiht sich Fest an Fest im Gedenken an große Lichtgestalten. Allein drei von ihnen tragen den Beinamen »der Große« beziehungsweise »die Große«: die Kirchenlehrer Leo und Albert sowie die Mystikerin Gertrud von Helfta. Vor allem aber schauen wir auf so begnadete Gestalten wie auf den Reiter, Soldaten und Bischof Martin von Tours, auf Elisabeth, die blutjunge Markgräfin von Thüringen, und auf Pater Rupert Mayer. Die Zuwendung dieser Menschen zu den Bedürftigen ihrer Zeit ist zur Legende geworden.
Eines aber gilt es zu vermeiden, wenn wir von begnadeten Menschen sprechen: sie derart zu entrücken, dass sie mit unserem Leben nichts mehr zu tun haben. So wie es auch traurig wäre, wenn alle Violin-Schüler Anne-Sophie Mutters Können zum Anlass nähmen, ihre Geigen an den an den Nagel zu hängen.