Die Armut wohnt ganz in der Nähe
Es gebe in Deutschland einen Trend zur Spaltung der Gesellschaft, sagt uns die Wissenschaft. Konkret ist damit gemeint, dass ein Drittel der Bevölkerung am Rande oder unterhalb der Armutsgrenze leben werde. Die Einkommensverteilung ändert sich bereits in diese Richtung. Den Lohndruck verspüren gerade diejenigen, die zu den unteren Gehaltsgruppen gehören. Hier werden auch die meisten Arbeitsplätze ins Ausland verlagert.
Es scheint in unserem Land nicht mehr zu gelingen, was über Jahrzehnte nach dem Zweiten Weltkrieg gelungen ist: der soziale Ausgleich. Anders ausgedrückt heißt das, dass zunehmend viele Menschen nicht mehr am Wohlstand und an der Wertschöpfung unserer Wirtschaft, die ja nicht gesunken sind, auch wenn wir nicht mehr die Zuwächse früherer Jahre verzeichnen, teilhaben. Dass es zunehmende Armut gibt, lässt sich also schwerlich leugnen. Und die Diskussion darüber, dass einer, der bei uns als arm gilt, in Teilen Afrikas als wohlsituiert angesehen würde, ist bei Licht besehen mehr als müßig.
Aber wenn ich gefragt würde, wie viele Arme ich bei mir in meinem Wohnort kenne, käme ich in Verlegenheit. Ich wüsste kaum einen zu nennen. Es fallen vielen Menschen auch kaum Arbeitslose ein, die vom Arbeitslosengeld II leben müssen. Die Armen stehen nämlich nicht auf den Dorf- und Stadtplätzen, um demonstrativ auf ihre Armut aufmerksam zu machen. Sie melden sich nicht, wenn der Elternbeirat der Schule wohlmeinend dazu auffordert, sich zu rühren, wenn man das Geld für die Klassenabschlussfahrt nicht berappen kann. Eher wird das Kind in dieser Zeit krank. Wahrscheinlich ist es in unserer Gesellschaft auch nicht ratsam, seine Armut zu offenbaren.
Wie ist das in unseren Pfarreien? Sind wir da in unserer Blindheit etwa ein bloßes Spiegelbild der Gesellschaft? Das hieße ja, dass wir uns gegenüber dem Herrn, der uns im 25. Kapitel des Matthäus-Evangeliums sagt, wir hätten ihm in den Bedürftigsten unserer Mitmenschen begegnen können, darauf hinausreden würden: Wir haben bei uns aber keinen Bedürftigen gesehen. Keinen, der ohne Geld, ohne Trost, oder allein und ohne Beistand dagestanden wäre.
Dem Bischof und dem Priester wird bei der Weihe auferlegt, den Armen ein Vater zu sein. Auch als Pfarrgemeinderäte müssen wir Augen, Ohren und Hände öffnen. Nicht dass der Psalmvers, der ursprünglich einem Spottlied auf die Götzen entstammt, irgendwann auf uns selbst Anwendung findet: Augen haben sie und Ohren, aber sie sehen und hören nichts.