Schuldzuweisungen
Vor drei Jahrzehnten, manche erinnern sich noch, gab es eine Neigung, für alles und jedes die Gesellschaft verantwortlich zu machen. Gewalttätigkeit wurde gerne als Antwort auf die soziale Unterdrückung gerechtfertigt. Straffällige wurden nur noch als Opfer gesellschaftlicher Benachteiligung gesehen. Individuelles Versagen oder gar personale Schuld wurden ausge-blendet. Die Verantwortung des Einzelnen verlor sich gleichsam im gesellschaftlichen Niemandsland.
Heute scheinen wir manchmal in das andere Extrem zu verfallen. Sehr schnell werden gesell-schaftliche Probleme dem Einzelnen und dessen selbstverschuldetem Versagen zugelastet. Die Arbeitslosen seien selbst für ihre Lage verantwortlich, sagt man. Natürlich sagt man es etwas verschlüsselter: Wer arbeiten will, der findet auch Arbeit. Auf diese Weise fällt es uns leicht, die Arbeitslosigkeit zwar einerseits als gesellschaftliche Plage zu beklagen, andererseits aber unser Vorurteil zu pflegen, die Entlassung des 52-jährigen Angestellten habe auch mit fehlendem Leistungswillen oder nachlassendem Leistungsvermögen zu tun.
Nahezu entrüstet diskutiert man derzeit den mangelnden Integrationswillen der zugewander-ten Ausländer. Haben wir vergessen, dass die Bundesanstalt für Arbeit einst in der anatoli-schen Hochebene ihre Zelte aufgeschlagen hat, um im Auftrag deutscher Unternehmen und deutscher Politik türkische »Gast«-Arbeiter anzuwerben, und dass es über ein Jahrzehnt lang ein umstrittenes Thema war, ob die »Gäste« überhaupt ihre Familien nachholen könnten? Oder haben wir vergessen, dass ein weiteres Jahrzehnt mit der reichlich realitätsfernen Kon-troverse vertan wurde, ob Deutschland ein Einwanderungsland sei oder nicht?
Heute fragen wir nicht nach den eigenen Versäumnissen und den Integrationshindernissen, die wir aufgebaut haben. Heute stellen wir dem einzelnen Ausländer, der Oma und dem Enkel, die Frage, was sie denn als Nicht-Integrierte hier wollten. Oder nehmen wir das Beispiel des Hauptschülers, der heute schon weiß, dass er seine zwanzigste Bewerbung um einen Ausbildungsplatz postwendend zurückbekommen wird. Wenn der Frust tief sitzt, wachsen Resignation und Gewaltbereitschaft. Der Ruf »Entfernt sie von der Schule!« ist wohlfeil. Wohin denn? Sicher, es wäre naiv, Jugendliche von der Verantwortung für sich selbst freizusprechen. Aber die indirekte politische Schuldzuweisung an den Einzelnen wäre glaubwürdiger, wenn die Poli-tik sagen könnte, sie hätte ihre Möglichkeiten zugunsten schwach begabter und sozial belaste-ter junger Leute ausgeschöpft.
Niemand darf, das zeigen die Beispiele, den Einzelnen aus seiner Verantwortung entlassen. Aber wir sollten vorsichtig sein, für gesellschaftliche Probleme gerade die Betroffenen zu Sündenböcken zu machen.