Ohnmächtige Politik?
Welchen Einfluss hat der Staat auf das Leben seiner Bürger? Wie weit sind die Handlungs-spielräume der Politik? Der Verfassungsjurist Ernst-Wolfgang Böckenförde hat bereits vor vielen Jahren mit einem einzigen Satz, der mittlerweile zu einem »geflügelten Wort« wur-de, die Grenzen der politischen und staatlichen Wirkungsmacht beschrieben: Der demokra-tische Verfassungsstaat lebe aus Voraussetzungen, die er selbst nicht zu garantieren vermö-ge. Aus welchen Voraussetzungen? Aus Einstellungen und Optionen seiner Mitglieder, aus deren gesellschaftlichem und politischem Engagement, aus der Bereitschaft zu Toleranz und Solidarität. Staat und Politik sind auf das moralische Wollen der Bürger verwiesen, ja sogar angewiesen.
Sie können Wahltermine anberaumen, Wahlurnen aufstellen und Wahlbriefunterlagen be-reithalten; aber letztlich haben sie es nicht in der Hand, ob die Bürger davon Gebrauch ma-chen. Ein anderes Beispiel: Die Politik mag es noch so stark bedauern, wenn die Menschen hierzulande wenig konsumieren, so dass der Wirtschaft die Binnennachfrage wegbricht. A-ber sie ist machtlos gegen die Neigung zum Sparen und gegen eine Mentalität der Sicherheit bei den vielen, zumal diese fast jeden Tag aus den Medien erfahren, dass ihre Reallöhne und Renten sinken und wie unsicher ihre Arbeitsplätze sind.
Wenig unmittelbaren Einfluss hat die Politik auch darauf, ob junge Frauen und Männer sich für Kinder entscheiden. Mögen Politiker (neuerdings im Verein mit den Arbeitgebern) noch so laut die drohende demographische Katastrophe beklagen, die Entscheidung liegt nicht bei ihnen. Bisher beherrschte eine einfache Formel die Politik: Die jungen Leute hätten durchaus einen ausgeprägten Wunsch nach mindestens zwei Kindern. Sie würden ihn aber nicht realisieren, weil Kinderkrippen fehlten. Es gab immer schon warnende Stimmen, de-nen diese politikbestimmte Rechnung zu simpel war. Warum sollte eine intelligente junge Frau Kinder zur Welt bringen, um sie dann bis auf wenige Freizeitstunden in die gesell-schaftliche Obhut zu geben? Eltern sind keine Agenten der Gesellschaft.
Nun hat jüngst eine Erhebung ein etwas anderes Ergebnis zutage gefördert. Mit dem grund-sätzlichen Kinderwunsch sei es gar nicht so weit her. Um die 20 Prozent der potenziellen El-tern wollten gar kein Kind. Die Kommentare aus der Politik schwenkten schnell um. Man se-he nun, dass die Dinge tiefer lägen. Man habe es mit einem Problem der Moral und nicht der Politik zu tun. Nun könnte man die Dinge noch tiefer sehen. Vielleicht haben die heutigen Einstellungen mit der jahrzehntelangen politischen Untätigkeit zu tun. Vielleicht lernen die jungen Leute am Beispiel ihrer Mutter: einer Mutter, die drei oder vier Kinder großgezogen hat, die heute mit ihrer Witwenrente am Rand des Sozialhilfeniveaus ihre alten Tage be-streitet und sich fragt, wem die Rentenbeiträge ihrer Kinder eigentlich zugute kommen.