Von Barmherzigkeit zu Gerechtigkeit
Die Tage nach Weihnachten haben unser Land in einem neuen Licht erscheinen lassen. Es war überwältigend, wie eine Gesellschaft, deren Mitglieder angeblich allesamt vor lauter sozialer Kälte den Rückzug ins eigene Gehäuse antraten, aus sich herausging und zu einer Gemeinschaft des offenen Herzens und Geldbeutels wurde. Viele, das Jahr über von Wirtschaft und Politik wegen ihrer Konsumverweigerung gescholten, gaben reichlich von ihrem Ersparten. In den Bäckereien und Waschsalons standen Spendenbüchsen. Kaufhausketten, die Preise im Cent-Bereich kalkulieren, schickten ihre Werbemanager mit hohen Schecks in die Benefiz-Fernsehgala. Die Kirche schob schnell – und nicht vergeblich – eine Sonderkollekte zwischen Adveniat und Sternsingeraktion. Sogar die Finanzminister assistierten scheinbar glücklich, als Kanzler und Ministerpräsidenten aus den leeren Haushaltstöpfen erstaunliche Summen hervorholten. Beinahe waren wir von unserer Freigebigkeit gerührt, bis schließlich die Politiker das Volk mit absurden Verglei-chen belobigten: Die Woge der Hilfsbereitschaft sei noch höher gewesen als die südostasiatische Flutwelle.
Inzwischen scheint uns der Alltag wieder einzuholen. Die Spendenkonten stehen nur noch auf den Videotextseiten der Fernsehkanäle. Die Zeitungsberichte über die schreck-liche Hinterlassenschaft der Flut sind in hintere Spalten gerückt. Das ist der übliche Gang in der schnelllebigen Mediengesellschaft. Aber wie steht es mit unserem Engagement? Kehrt auch hier »Normalität« zurück? Werden wir die Not der Katastrophengebiete in die Vielzahl der weltweiten Elendsregionen einordnen, um ihnen nur noch mäßiges In-teresse entgegenzubringen?
Es ist nun viel davon die Rede, dass die Hilfe in den betroffenen Regionen Südostasiens nachhaltig sein müsse. Länder, Städte, Gemeinden, auch Schulen denken über dauerhafte Partnerschaften nach. Die Herausforderung heißt jetzt nicht mehr nur, Geldquellen zu erschließen, sondern die Spenden gezielt und koordiniert einzusetzen. Aber ist es nicht die größere Herausforderung, unsere Solidarität zu stabilisieren? Gewiss, es ist eine ermutigende Erfahrung, wie viele Menschen in unserer Gesellschaft ihre Herzen nicht verschließen und sich vom Leid anderer anrühren lassen. Selig die Barmherzigen! Aber die Barmherzigkeit muss uns weitertreiben. Die Spontaneität des offenen Herzens ist die Form der ersten Anteilnahme am Leid und an der Not des Nächsten. Die Anteilnahme selbst wird aber nur dauerhaft und nachhaltig sein, wenn wir uns den Ursachen von Not und Leid zuwenden – und wenn die Barmherzigkeit zum Impuls für Gerechtigkeit wird.