Über die Tugend der Diskretion
»Aus der Schule schwätzt man nicht«, pflegte früher die Lehrerin bereits den Schülern der ersten Volksschulklasse einzuschärfen. »Das bleibt in der Familie«, sagt die Mutter zu ihren Kindern. Gemeint ist, dass man keine so genannten Interna preisgibt und keine internen Vorgänge an die Öffentlichkeit bringt, die diese nichts angehen. Jede Familie, jedes Lehrerkollegium, jeder Unternehmensvorstand, ja eigentlich jede Gemeinschaft braucht einen geschützten Binnenraum, in dem man ungeschützt Probleme der Gemeinschaft ansprechen und sich gegenseitig offen kritisieren kann.
Selbst jene Zeitungsredaktionen, zu deren Profession es gehört, das Privatleben von Prominenten auszuspähen, den Streit hinter den schalldichten Türen von Unternehmens- und Parteivorständen ans öffentliche Licht zu zerren und dem Rumoren hinter Klostermauern Öffentlichkeit zu verschaffen, werden im eigenen Redaktionskreis Disziplin einfordern und sehr genau unterscheiden, was nach außen getragen werden kann und was der Vertraulichkeit unterliegt.
Natürlich gibt es auch ein Recht der Öffentlichkeit auf Information – über alles, was alle angeht. Die geistige und politische Auseinandersetzung braucht notwendigerweise Öffentlichkeit. Anders ist es mit der persönlichen Kritik. Eine Zurechtweisung des anderen, die nicht verletzt und nicht Gemeinschaft zersetzt, ist ein schwieriges Unterfangen. Und umgekehrt, Kritik entgegenzunehmen, ist immer zugleich auch ein Akt der Selbstüberwindung. Beides gelingt nur bei gleichzeitiger Diskretion. Wo diese Diskretion durchbrochen wird, verbreitet sich in der Regel Peinlichkeit. Und die Kritik am anderen nimmt die Form der öffentlichen Vorführung und Abrechnung an.
Es gibt Anlass, an die Tugend der Diskretion zu erinnern. Auch in den Kirchenkreisen Deutschlands erlebt sie zur Zeit nicht gerade eine Hochkonjunktur. Dabei hat Jesus für seine Jüngerschaft in nicht zu überbietender Klarheit angeordnet, wie zu verfahren ist, wenn man Kritik am Bruder übt: erst unter vier Augen, dann in Anwesenheit von zwei oder drei Zeugen, und erst dann vor der versammelten Gemeinde. Von der Gasse ist überhaupt nicht die Rede. Man sage nicht, Jesus habe leicht reden gehabt, weil es zu seiner Zeit weder eine katholische Nachrichtenagentur noch eine Deutsche Tagespost gab.