Eine vergessene Lektion
Vor 23 Jahren schrieb Papst Johannes Paul II. die Sozialenzyklika »Über die menschliche Arbeit«. Im Zentrum dieser Enzyklika steht der Zusammenhang von Arbeit und persona-ler Würde. Sie handelt davon, dass sich der Mensch durch die Arbeit verwirkliche, aber auch durch die Bedingungen der Arbeit erniedrigt werden könne. Sie spricht von der Ar-beit als Voraussetzung, Familien zu gründen und aufzubauen, und als einer wesentlichen Bedingung, Identität in der Gemeinschaft zu finden und in die Gesellschaft integriert zu sein. Wie es um die Arbeit bestellt sei, sei eine Schlüsselfrage für das menschliche und gesellschaftliche Wohl.
Wie fern klingen solche Sätze. Wer heute das Rundschreiben liest, muss entweder im Papst einen weltfremden Idealisten sehen – oder er bekommt eine Ahnung davon, wie tief die gegenwärtige Krise unserer Gesellschaft reicht. Da sind die Millionen, die keine Chance auf Arbeit haben, und dies oft schon in jungen Jahren als Ausgangspunkt ihrer sozialen Isolierung erfahren. Da sind die über 50-Jährigen, die aufgrund der Aussichtslo-sigkeit ihrer Bewerbungen in ihrem Selbstwertgefühl erschüttert sind. Da sind die Millio-nen, die unter der Drohung leben, ihr Arbeitsplatz könnte in Billiglohnländer verlagert werden. Wenn ein Konzern öffentlich mit dem Gedanken spielt, 74.000 Arbeitsplätze ins Ausland zu verlegen, und wenn es ihm tagtäglich andere Unternehmen gleichtun, dann bringt dies – gewollt oder ungewollt – eine Destabilisierung in das Leben vieler. Es behin-dert langfristige Lebensentwürfe und fördert eine Mentalität, sich zunächst auf das ei-gene Fortkommen zu konzentrieren. Aber auch die qualifizierten jungen Menschen ha-ben ihre Lektion gelernt. Sie erfahren, dass ihnen fernab von geregelten Arbeitszeiten Mobilität und Flexibilität abverlangt werden, was Norbert Blüm vor kurzem von einem Job-Nomadentum sprechen ließ. Darf es uns so wundern, dass vierzig Prozent der jungen Akademikerinnen kinderlos bleiben? Was nutzen die Kassandrarufe der Wirtschaft, dass die geringe Kinderzahl von heute den Wirtschaftsstandort von morgen gefährdet, wenn zugleich ein Viertel aller Berufstätigen unter 25 Jahren nur einen befristeten Arbeitsver-trag haben.
In den täglichen Nachrichten über die DAX-Werte werden wir belehrt, wie sensibel die Börse auf die kleinsten Unsicherheitsfaktoren reagiert. Wirtschaft sei, sagen die Ökono-men, ein Stück weit Psychologie. Wenn aber Millionen von Menschen über den neuralgi-schen Punkt Arbeit in ihrer persönlichen und sozialen Existenz verunsichert werden, scheinen sich dieselben Ökonomen darüber zu wundern, dass davon keine Wogen von Konsumfreude, Risikobereitschaft und optimistischer Lebensplanung ausgehen. Sie soll-ten das päpstliche Rundschreiben von 1981 in die Hand nehmen.