Europa ist eine Kulturgemeinschaft
Am 13. Juni findet in den 25 Mitgliedsländern der Europäischen Union (EU) die Wahl zum europäischen Parlament statt. Zur Bedeutung der Abstimmung, zum Stellenwert der eu-ropäischen Einigung und zur Rolle des Christentums in Europa ein Gespräch mit Professor Alois Baumgartner.
MK: Werden Sie am 13. Juni zur Wahl gehen?
BAUMGARTNER: Mit Sicherheit. Ich fühle mich als Europäer. Das europäische Einigungswerk, das von Schuman, de Gasperi und Adenauer angestoßen wurde, halte ich für die bedeutendste und zukunftsträchtigste Entwicklung im 20. Jahrhundert.
MK: Wahlen zum europäischen Parlament werden auch hier zu Lande vorrangig als Test für die Bundesregierung begriffen. Wird das dem Anlass gerecht?
BAUMGARTNER: Politische Stimmungen im Land schlagen auf alle Wahlen durch. Das ist nicht zu vermeiden und gilt auch für die Europawahl. Politik und Bürger müssen sich aber darüber klar werden, dass die EU politisch viel mehr Weichen stellt, als weithin bekannt ist. Sie hat längst viele Souveränitätsrechte von den Nationalstaaten übernommen.
MK: Vielleicht stehen gerade deshalb die EU und ihr Parlament – Stichwort »Schwatzbude« – nicht sonderlich hoch im Kurs.
BAUMGARTNER: Je weiter entfernt und umfassender eine politische Einheit ist, umso an-fälliger wird der Bürger für Parolen wie »Da kann man eh nichts bewirken«. Hier stellt sich die Aufgabe der Bewusstseinsbildung. Wir sollten uns sehr hüten, das europäische Parlament abschätzig zu beurteilen. »Schwatzbude« stammt aus dem Wortschatz anti-parlamentarischer Kreise der Weimarer Republik. Man muss sich vergegenwärtigen, dass nicht nur begeisterte Nationalsozialisten, sondern auch Anti-Demokraten, die sich leicht-fertig über das Parlament geäußert haben, Wegbereiter des Dritten Reiches waren.
MK: Studien belegen, dass vor allem junge Menschen nicht wählen gehen wollen.
BAUMGARTNER: Die jüngere Generation realisiert kaum noch, dass die Tatsache, dass wir im größten Teil Europas seit fast 60 Jahren in Frieden leben, keine Selbstverständ-lichkeit ist. Gerade die Erweiterung der EU nach Osten hin lässt uns doch auf eine Stabi-lisierung des Friedens in Europa hoffen. Die EU hat sicher auch große Bedeutung für die Minderheiten in den Mitgliedsländern. Wer sich noch an die Konfliktsituation in Südtirol erinnert, wird sehen, dass durch das europäische Einigungswerk solche Probleme, die mit Misstrauen und Gewalt verbunden waren, heute überwunden erscheinen.
MK: Und dennoch überwiegt Kleinmut.
BAUMGARTNER: Man muss verstehen, dass in Grenzgebieten Ängste herrschen. Billigangebote in Dienstleistung und Gewerbe können die Chancen unserer Unternehmer und Ar-beitnehmer schmälern. Ich glaube aber, dass die Wirtschaftsregionen, die bisher als Randgebiete benachteiligt waren und durch regionale Strukturpolitik unterstützt werden mussten, mittel- und langfristig von den offenen Wirtschaftsräumen, die entstehen, pro-fitieren werden. Aber noch einmal: Man darf nicht leichtfertig über die gegenwärtigen Ängste der Menschen in diesen Regionen hinweggehen.
MK: Sehen Sie das bei der Diskussion um die EU-Mitgliedschaft der Türkei ähnlich?
BAUMGARTNER: Die Frage einer Aufnahme der Türkei in die EU ist in keiner Weise spruchreif. Grundsätzlich stellt sich hier die Frage, wie man Europa definiert. Ich glau-be, dass man Europa als Kulturgemeinschaft verstehen muss. Ich sehe die europäische Solidarität jedoch nicht als europäischen Egoismus: Das zummenwachsende Europa kann nicht gelingen, wenn es seine Grenzen abriegelt. Es muss in umfassender Weise auf seine Anrainer und die ganze Welt hin offen sein.
MK: Was zeichnet diese Kulturgemeinschaft aus?
BAUMGARTNER: Ihre kräftigste Wurzel hat sie im römisch-katholischen, im protestanti-schen und orthodoxen Christentum. Daneben darf man ihre antiken Wurzeln wie die griechisch-hellenistische Philosophie und die römische Rechtstradition nicht übersehen.
MK: Demnach liegt für Sie ein Gottesbezug in der Präambel der künftigen EU-Verfassung nahe?
BAUMGARTNER: Ja, aus zwei Gründen. Zum einen, weil damit deutlich wird, dass es Be-reiche gibt, die dem Gestaltungswillen auch der Mehrheiten im demokratischen Prozess entzogen sind. Zum anderen gibt es eine Verantwortung nicht nur vor sich selbst, son-dern zugleich vor einer übergeordneten göttlichen Instanz. Doch eine Nennung Gottes kann in der Verfassung einer weltanschaulich-pluralen politischen Gemeinschaft nicht explizit christlich sein. Der Gottesbezug sollte so sein, dass sich in ihm alle, die an Gott glauben, wiederfinden, und dass er auch von den relativ wenigen Bürgern akzeptiert wird, die sich von jeder Gottesvorstellung distanzieren.
MK: Welche Rolle bleibt für Christen im größer werdenden Europa?
BAUMGARTNER: Katholischen Christen, deren Kirchenverständnis umfassend angelegt ist, steht es ganz schlecht an, in der europäischen Frage nicht über den eigenen Kirchturm hinauszuschauen. Deshalb ist mein Motto für den 13. Juni: »Katholiken an die Wahlurne!«
Interview: Jürgen-A. Schreiber