Den Letzten beißen...
Die Reformen – schon teilweise vollzogen und teilweise bevorstehend – gehen offensicht-lich wie eine Springflut über uns hinweg; und hinterher schauen wir, was von ihr weggespült wurde und was ihr standgehalten hat. Das Bild der Springflut entspricht dem Empfinden vieler: Die Reformen kommen mit unwiderstehlicher Kraft; wir verstehen eigentlich nicht recht, warum sie an einer Stelle wüten und an der anderen nicht. Sie kommen mit einem Tempo, das uns, aber wahrscheinlich auch die politisch Verantwortlichen ü-berfordert; das Wasser kommt von allen Seiten, und hinterher wird alles anders sein.
Wo die Flut einer Reform sich einreißend ihren Weg bahnt, kann der Flurschaden er-schreckend groß werden. Das haben in der vergangenen Woche circa 1.500 Omnibus-, Trambahn- und U-Bahnfahrer der Münchener Verkehrsbetriebe erfahren. Man eröffnete ihnen, dass ihr Lohn – wenn auch nicht in einem Schritt – um ein Viertel abgesenkt wer-den müsse. Der Arbeitgeber rechnete ihnen die Millionen Euro vor, die seit dem 1. Januar aufgrund der vorgezogenen Steuerreform nicht mehr als Zuschüsse des Staates für den öffentlichen Nahverkehr fließen. Es klingt jedenfalls glaubwürdig, wenn die Leitung der Münchner Stadtwerke beteuert, dass der Ausfall dieser Einnahmen weder durch eine Drosselung der Investitionen noch durch eine Überwälzung auf die Fahrgäste wettgemacht werden kann. Der öffentliche Nahverkehr soll ja attraktiv bleiben.
Also beißen den Letzten die Hunde? Sprich den Omnibusfahrer. Ist das die Folge einer wenig durchdachten, in den Morgenstunden einer Dezembernacht des letzten Jahres ge-fundenen Reformentscheidung? Man könnte die Frage noch zuschärfen: Kann es der Sinn einer Steuerreform sein, dass 1.500 Busfahrer die Steuerentlastungen von 5.000 Groß-verdienern finanzieren, die das Drei- und Vierfache auf ihrem Gehaltskonto vorfinden? Der Zuwachs der hohen Einkommen finanziert durch die Einbuße bei den kleinen?
Das Münchner Beispiel zeigt die Notwendigkeit, dass die Politiker und ihre nicht ehren-amtlich tätigen Berater einen Bericht vorlegen, welche Umverteilung der verfügbaren Einkommen in unserer Gesellschaft durch die Reformen in die Wege geleitet wird, wie sich die Belastungen und Entlastungen per saldo auf die einzelnen Bevölkerungsgruppen verteilen. Man sagt uns, wir müssten die »Verteilungsmentalität« überwinden. Faktum ist aber, dass massive Umverteilungen im Gange sind. Und würde man dabei den Maß-stab der Gerechtigkeit anlegen und könnte zeigen, dass nicht die Schwachen die Zeche bezahlen, bekäme die Reformpolitik einen Glaubwürdigkeitsschub.