Vom Drang, den Ort zu wechseln
Auch diesen Sommer erlebten wir wieder dasselbe Schauspiel. Karavanen zogen in den Süden: Auto an Auto auf den Autobahnen, Kondensstreifen an Kondensstreifen der Charterflugzeuge am Himmel. Selbst der Jahrhundertsommer, der ja kaum irgendwo südlichere Tage erwarten ließ, konnte die Völkerwanderung nicht abwenden. Natürlich kamen auch, wie immer, die stillen Genießer zuhause – auf den abendlichen Terrassen und in den schattigen Biergärten – nicht zu kurz.
Aber der Drang, aus den eigenen vier Wänden zu flüchten und das alltägliche Gehäuse zurück zu lassen, ist nicht zu unterbinden. Den Ort zu wechseln, hat wohl etwas mit der Grundbefindlichkeit des Menschen zu tun. Das Verlangen nach Veränderung und danach, das Vertraute der eigenen Umgebung und des eigenen Lebenskreises zu überschreiten, ist offensichtlich dem Menschen genauso eingestiftet wie die Sehnsucht nach Beheimatung. Diese vorübergehende »Auswanderung« aus dem gewohnten Umfeld tut uns gut. Sie verhindert vor allem, dass das Vertraute zum Einengenden wird. Es hilft, das Eigene wieder zu schätzen, dessen Reichtum zu entdecken und damit auch die eigenen Lebenschancen wieder zu erkennen und zu ergreifen.
Im Reich der Moral ist es im Übrigen nicht anders. Wir müssen von uns »absehen«, uns in die Lage anderer versetzen und uns für andere einsetzen, damit wir das eigene Leben besser bewältigen. Wer Anteil nimmt am Leben anderer, an deren Freuden und an deren glücklichen Stunden, an deren Leid und Scheitern, wer also den Blick von sich selbst abwendet und sich nicht in der Selbstsorge und in den Eigeninteressen verliert, hat die Chance, seine eigene Lebenslinie zu finden. Die Nächstenliebe ist offensichtlich die Voraussetzung für die Eigenliebe, das heißt, für die Zustimmung zu sich selbst, zu den eigenen Möglichkeiten und Grenzen.
Die Solidarität mit anderen ist nicht ein Umweg, sondern vermutlich der einzige Weg zur Selbstverwirklichung. Uns Christen dürfte diese Einsicht nicht überraschen, denn von Jesus kennen wir das Wort, dass sich nur derjenige, der sich verliere, finden werde.