Der glimmende Docht
In den Gottesknecht-Liedern des Propheten Jesaja, aus denen die Liturgie am Fest der Taufe Jesu eine der Lesungen nimmt, heißt es vom erwählten Knecht, an dem Gott sein Wohlgefallen hat: »Das geknickte Rohr zerbricht er nicht, und den glimmenden Docht löscht er nicht aus.«
Es ist ein tröstliches Wort angesichts unserer Zaghaftigkeit und Unzulänglichkeit. Es ist tröstlich angesichts dessen, dass wir immer wieder einknicken, wo wir aufrecht stehen und konsequent handeln sollten. Es ist aber auch eine unzweideutige Aufforderung an uns, nicht den Stab über andere zu brechen oder, wie wir uns in der Umgangssprache ausdrücken, mit jemandem »fertig« zu sein. Ich erinnere mich zum Beispiel an Diskussionen im Pfarrgemeinderat, ob man diejenigen Kinder, von denen man sagen kann, dass ihre erste heilige Kommunion mit großer Wahrscheinlichkeit ihre letzte oder vorletzte sein werde, vom Sakrament ausschließen solle.
Es ist ein tröstliches Wort. Es ist aber auch eine gesellschaftliche Herausforderung. Denn wir leben in einer zunehmend unversöhnlichen, weil selbstgerechten Gesellschaft. Wer strauchelt und am Boden liegt, wird rasch noch tiefer hineingetreten. Dem Arbeitslosen sagen wir ins Gesicht, dass, wer Arbeit suche, eine finde. Den Leistungsschwachen gegenüber halten wir die Losung bereit, dass Leistung sich lohnen müsse. Für schuldig Gewordene und Verurteilte fordern wir, dass sie entschiedener und länger wegzusperren seien. Als Vorsitzender des Diözesanrats erfährt man selten schärferen Widerspruch, als wenn man die Resozialisierung Straffälliger als Aufgabe der Politik anmahnt. Widerspruch auch von guten Katholiken. So als habe man eine »linke« Parole ausgegeben, und so, als sei man vom Gebot und Beispiel Jesu abgewichen.
Das Bild von der bescheidenen Glut des glimmenden Dochts, die nicht ausgelöscht, und das vom geknickten Rohr, das nicht gebrochen werden soll, sagt uns, dass auch das bescheidene Maß an moralischer Kraft, über das jemand noch verfügt, nicht verachtet werden soll, und dass das Stück Halt, das jemand trotz einer geknickten Biographie in der Gemeinschaft findet, ihm nicht weggerissen werden darf. Warum? Weil darin die Chance eines neuen Anfangs liegt. Weil Gott in seiner Barmherzigkeit uns gestattet, immer wieder neu anzufangen. Und weil jeder von uns auf diese Gnade des je neuen Anfangs angewiesen ist. Wie könnten wir nur auf Gerechtigkeit pochen, wo wir doch selbst der Barmherzigkeit bedürfen? Sicher, ohne Gerechtigkeit kann das Zusammenleben nicht gelingen, ohne sie kann keine Gemeinschaft bestehen. Aber, so ein Wort des heiligen Thomas von Aquin, »Gerechtigkeit ohne Barmherzigkeit ist Grausamkeit.« Dies sollten wir am Beginn des Jahres, das uns wiederum einen neuen Anfang gewährt, bedenken.