Ein Beispiel für freiwillige Solidarität
In vielen Dekanaten, Städten und Landkreisen unseres Erzbistums fanden in diesem »Jahr der Freiwilligen« festliche Versammlungen statt, um denen, die im ehrenamtli-chen Dienst der Kirche stehen, zu danken, und um den Wert des vielfältigen kirchlichen Ehrenamts für unsere Pfarrgemeinden und für unsere Dörfer, Märkte und Städte herauszustellen. Was ist der moralische Kern des Ehrenamts?
Der große mittelalterliche Kirchenlehrer Thomas von Aquin scheint es mir auf den Punkt gebracht zu haben. In seiner »Theologischen Summe« vergleicht er an einer Stelle die Tugend der Gerechtigkeit mit der Tugend der Hochherzigkeit beziehungsweise der Frei-willigkeit. In der Gerechtigkeit, sagt er, geben wir dem Anderen das Seine, das, was wir ihm schulden und worauf er Anspruch hat. In der freigebigen Hochherzigkeit dagegen geben wir von unserem Eigenen. Das ist der Kern des Ehrenamts: zu geben, worauf niemand ein Anrecht hat, und nicht irgend etwas zu geben, sondern sich selbst einzusetzen; sich in Anspruch nehmen zu lassen, obwohl niemand einen Anspruch darauf anmelden könnte, sich dort zuständig zu wissen, wo man gebraucht wird, und sich in Pflicht zu nehmen, ohne verpflichtet zu sein.
Hanna Stützle, die als meine Vorgängerin sechzehn Jahre das Amt der Diözesanratsvor-sitzenden ausgeübt hat – dieser Tage konnte sie einen runden Geburtstag feiern –, hat das, was die freiwillige Solidarität des Ehrenamtlichen ausmacht und auszeichnet, seit ihrer Jugendzeit in vorbildlicher Weise gelebt: tatkräftig, zupackend, in schnörkelloser Selbstverständlichkeit. Eines ihrer Vorbilder ist Pater Rupert Mayer, dessen Motto sie ge-legentlich zitiert hat: »Es muss Wärme von uns ausgehen, den Menschen muss in unserer Nähe wohl sein, und sie müssen fühlen, dass der Grund dazu in unserer Verbindung mit Gott liegt.« Und sie hat auch die nüchterne Einschätzung Rupert Mayers hinzugefügt: »Es gehört ungeheuer viel Selbstdisziplin dazu, immer wohlwollend zu sein.«
Kardinal Wetter hat vor einigen Jahren im Blick auf Hanna Stützle gesagt, sie gehöre einer Generation an, die deswegen viel in unserem Land, in der Kirche wie in der Gesell-schaft, bewirkt hat, weil sie nicht fragte, welche Ansprüche können wir stellen, welche Forderungen können wir erheben, sondern weil sie fragte, wo werden wir gebraucht, was können wir tun, was dient dem Allgemeinwohl. Und an Hanna Stützle direkt gewandt, fuhr Kardinal Wetter fort: »Ihre Solidarität war und ist deswegen glaubwürdig, weil Sie die zähe, mühselige und gewiss nicht mit Lorbeeren bedachte Kleinarbeit in politischen wie kirchlichen Gremien nicht gescheut haben.« Ein Vorbild für uns alle.