Über modernes Samaritertum
Es gehört zum Wesen des Sozialstaats, unter diejenigen, die den Anforderungen der Leistungsgesellschaft nicht gewachsen sind, ein Netz zu spannen, das sie auffängt und ihnen erlaubt, am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen: die ihren Arbeitsplatz verloren haben, die psychisch und chronisch Kranken, die Flüchtlinge, die Obdachlosen, die Pflegebedürftigen, die Gestrauchelten, die sich schwer tun, wieder auf die Beine zu kommen. Für sie und viele andere mehr hat der Staat vielfältige Formen der Fürsorge entwickelt.
Manche fragen kritisch an, ob das Netz nicht zur Hängematte verkommen sei. In der Tat müssen wir nüchtern prüfen, ob wir nicht Anreize dafür geschaffen haben, dass einige, die für sich selbst sorgen könnten, sich von der Gesellschaft aushalten lassen. Aber vielleicht haben sich viele von uns von realer Not bereits soweit entfernt, dass manches Urteil über Schmarotzertum zu schnell von den Lippen kommt.
Eine andere Kehrseite unserer Sozialstaatlichkeit wird in der Regel weniger bedacht. Unsere Gesellschaft kennt nahezu für jede Notsituation zuständige Stellen, deren Handlungsbereiche durch Gesetze und Verordnungen genau geregelt und abgegrenzt sind. Jeder hat schon einmal ein amtliches Schreiben geöffnet, in dem es heißt: »Zuständigkeitshalber haben wir Ihr Ersuchen an die Stelle X weitergereicht.« Nicht selten ertappen wir uns auch selbst beim Ruf nach der zuständigen Stelle. Statt uns selbst in einer akuten Situation einzusetzen, kommt rasch die Frage: »Wer ist denn zuständig? Da muss es doch jemand geben, der zuständig ist?« Gibt es leider nicht immer. Und wenn, ist dieser Jemand auch nicht gleich zur Stelle. Manche Not fällt schlicht durch das Raster organisierter Zuständigkeiten.
»Wer ist zuständig?« ist in der arbeitsteiligen und auch in der Wohlfahrtspflege hoch differenzierten Gesellschaft die moderne Variante der alten Frage »Wer ist denn mein Nächster?« Wie bekannt dreht Jesus die Frage um: »Wer ist dem unter die Räuber Gefallenen der Nächste geworden?« Derjenige, müssen wir antworten, der sich hat anrühren lassen und der dadurch »zuständig« geworden ist. Es gibt viele in den christlichen Gemeinden und außerhalb, die anderen »beistehen« und sich selbst »einsetzen«, und sei es nur dadurch, dass sie jemanden helfen, sich in den Verschiebebahnhöfen offizieller Zuständigkeiten zurecht zu finden. Ihnen, die sich einiges auflasten oder, um im Gleichnis des Barmherzigen Samariters zu bleiben, sich selbst als Lastesel für gesellschaftliche Nöte und Notwendigkeiten zur Verfügung stellen, – ihnen gilt die Anerkennung und der Dank im Jahr der Freiwilligen.