Ethische Schranken der Gentechnologie
Der moderne Fortschrittsglaube ist seit den siebziger Jahren erschüttert. Wir haben gelernt, dass wir für nahezu jeden Fortschritt einen Preis zu zahlen haben. Diese gesunde, nüchterne Skepsis scheint noch mehr angebracht zu sein in einer Zeit, in der wir zunehmend in der Lage sind, durch die Gentechnologie die Codes alles Lebendigen zu entschlüsseln, in das genetische Programm von Pflanzen, Tieren und Menschen einzugreifen und – gentechnisch betrachtet – identische Lebewesen zu schaffen.
Die Frage stellt sich immer drängender, ob die moralischen Potentiale unserer Gesellschaft ähnlich schnell wachsen wie unsere Handlungsmöglichkeiten. Die Ausweitung dessen, was wir können, kann das Leben des Menschen reicher und das Zusammenleben in der Gesellschaft menschlicher machen. Es kann aber auch umgekehrt sein: Dass die erweiterten Potentiale auch zur Erniedrigung des Menschen, zur Missachtung von Randgruppen und zur Auflösung bisher geltender moralischer Überzeugungen führen.
Gerade in der medizinischen Forschung, in der sich große Hoffnungen auf die Gentechnik richten, ist die Gefahr besonders groß. Gerade weil die medizinische Forschung in unserer Gesellschaft einen so hohen Rang einnimmt, ist die Versuchung groß, um des schnellen Erfolgs willen in der Wahl der Forschungsmethoden moralische Grenzen zu überschreiten. Von verschiedener Seite werden Stimmen laut, man dürfe in unserem Land die Forschungsfreiheit nicht mehr wie bisher einschränken. Ansonsten würde die Forschung in andere Länder abwandern. Deutschland würde den Anschluss an die Spitzenforschung verlieren. Und eines Tages würden wir doch die Ergebnisse einer Forschung importieren, die wir im eigenen Land wegen eines übertriebenen Moralismus verhindert hätten. Für viele ist das eine gängige Argumentation. Wir sollen unsere moralischen Bedenken ablegen, heißt das im Klartext, um nicht von anderen überholt zu werden, die solche Scheu nicht kennen. Ist das nicht die Kapitulation vor einem Wettbewerb, bei dem nur derjenige siegen kann, der am konsequentesten seine moralischen Überzeugungen auf dem Altar des Fortschritts opfert?
Deshalb gilt es, die moralische Grenze der Forschung genau zu definieren. Sie liegt dort, wo der konkrete Mensch, gleich in welcher Phase seines Lebens, gleich ob gesund, krank oder behindert, nur noch für außer ihm liegende Zwecke instrumentalisiert wird – und seien diese Zwecke noch so erhaben.
(Auszug aus der Ansprache von Professor Alois Baumgartner auf der Frühjahrs-Vollversammlung des Diözesanrats)