Fortschritt – vom Menschen weg?
Der moderne Fortschrittsglaube, der sich daraus ableitet, dass der Mensch nach und nach in alle Räume vorstoßen, die Geheimnisse der Natur enträtseln und die Codes alles Lebendigen entschlüs-seln könne, ist in den letzten drei Jahrzehnten erschüttert worden. Die früher nicht vorstellbare Ausweitung unserer Wissensbestände und Handlungsspielräume führt nicht automatisch dazu, dass dadurch das Leben des Einzelnen reicher und das Leben der Gesellschaft menschlicher wird. Ob-wohl die vergangenen dreißig Jahre bahnbrechende Fortschritte gebracht haben, macht sich Ernüch-terung breit. Wir haben gelernt, dass wir für nahezu jeden Fortschritt einen Preis zu zahlen haben.
Einzig in einem Bereich hat der Zweifel unserer Fortschrittshoffnung noch wenig anhaben können, nämlich in der Medizin. Im Gegenteil, unsere Erwartungen werden immer ungeduldiger. Nicht nur in der alltäglichen Sprache ist uns die Gesundheit das Wichtigste geworden. Alle Umfragen bestäti-gen es: der Wert der Gesundheit rangiert in der säkularisierten Gesellschaft an oberster Stelle. Die Verteilungskämpfe der Zukunft – diese Konsequenz zeichnet sich schon heute ab – werden sich darum drehen, wer welchen Zugang zu den kostspieligen Chancen der gesundheitlichen Vorsorge und medizinischen Versorgung haben wird.
Eine andere Konsequenz ist, dass die medizinische Forschung in unserer Gesellschaft einen solchen Vorrang genießt, dass um des schnellen Erfolgs willen in der Wahl der Mittel Grenzen überschritten werden, deren Beachtung bisher allgemein anerkannt war. Es geht etwa um die Frage, inwieweit nicht zustimmungsfähige Personen in die Medizinforschung einbezogen werden dürfen. In Frage gestellt ist die Forschung am Menschen in seiner vorgeburtlichen embryonalen Phase, das heißt an sogenannten »überzähligen« Embryonen. Schließlich werden die Möglichkeiten des Klonens von menschlichen Embryonen und Stammzellen ins Spiel gebracht.
Wer den langsamen, grausamen Persönlichkeitszerfall, der mit Krankheiten wie Parkinson verbun-den ist, kennt oder gar in der nächsten Umgebung mit durchleidet, wird sich mit schnellen, wohlfei-len Antworten zurückhalten. Und doch: es gibt eine moralische Grenze der Forschung. Sie liegt dort, wo der konkrete Mensch, gleich in welcher Phase seines Lebens, nur noch für außer ihm lie-gende Zwecke instrumentalisiert wird und nicht mehr als Zweck an sich selbst geachtet wird. Das Erbe, das wir künftigen Generationen hinterlassen, wird möglicherweise weniger daran gemessen werden, ob wir den Ursachen einer Krankheit fünf Jahre früher oder später auf die Spur gekommen sind. Die Frage wird eher lauten, ob die Unveräußerlichkeit personaler Würde Teil der Mitgift war, die wir unseren Kindern und Enkeln hinterlassen haben.