Hoch-Zeit der Selbstgerechten
Als der Kanzler in seiner Neujahrsansprache mit Blick auf das BSE-geschüttelte Land und dessen tiefe Verunsicherungen und berechtigte Ängste den Satz sagte, jetzt sei eines gewiss nicht angesagt, nämlich vorschnelle Schuldzuweisungen und Rücktrittsforderungen, – ja da konnte man noch hoffen, dass es diesmal anders sein werde, dass es wenigstens diesmal nicht nach dem gewohnten Drehbuch des politischen Rituals ablaufen wer-de.
Weit gefehlt. Während wir vom Kanzler das staatsmännische Das-sei-gewiss-nicht-die-Stunde vernahmen, saßen in den Hinterzimmern der Parteizentralen schon die Strategen. Es war ihnen klar, dass nur ein Befreiungsschlag helfen könne. So kam es auch. Zwei Minister treten aus »eigenem Antrieb« zurück. Sie übernehmen so genannte politische Verantwortung. Sie wollen – wie sie sagen – dem Neubeginn nicht im Wege stehen. Allseits, der Kanzler voran, bekundet man ihnen Respekt. Innerhalb weniger Stunden – das nennt man Führungsstärke – werden zwei Neue ernannt, unverbraucht, unbelastet, nicht infiziert von der BSE-Krise.
Warum wundern wir uns noch? Es ist doch immer dieselbe Dramaturgie. Wann immer un-sere Republik ein politisches Erdbeben erlebt, wann immer sie mit einer Fehlentwicklung konfrontiert wird, wird als erstes die Schuldfrage aufgeworfen. Schließlich gibt es für alles und jedes einen Zuständigen. Die Zuständigen sind die Schuldigen. Jetzt wird rasch recherchiert: Hat nicht schon irgendwann irgendwer die Katastrophe angekündigt ...? Warum wurde nicht schon damals ...? Man hätte viel energischer ...! Der Sündenbock wird eingekreist. Die oppositionellen und medialen Zeigefinger richten sich wie Lanzen auf ihn. Aber schlimmer noch, die eigenen Parteifreunde – Loyalitätsformeln flüsternd und Unterstützung beteuernd – rücken ab. Alte Rechnungen wollen beglichen sein. Nebenbuhler wittern ihre Chance. Schließlich mündet das Kesseltreiben in den nichts- und zugleich vielsagenden Satz: Der Minister X, die Ministerin Y sei nicht mehr zu halten.
Was hier abläuft, trägt alle Züge eines gesellschaftlichen Entsühnungs- und Reinigungsrituals. Ein Opfertier, beladen mit allen Unterlassungs- und Tatsünden vieler Jahre, wird stellvertretend in die Wüste geschickt. Zurück bleiben Gereinigte und Gestärkte, die ihr Bedauern äußern und versichern, dass sich der Sündenbock natürlich moralisch nichts vorzuwerfen habe. Und alle stimmen ein in den Unisonogesang, wie gut es doch dort um die politische Kultur bestellt sei, wo noch »politische Verantwortung« übernommen wer-de. Es ist ein Rätsel, warum gerade in Hoch-Zeiten der Heuchler und Selbstgerechten die hehren Begriffe der Verantwortung und Kultur eine solche Konjunktur haben.