Der Streit geht weiter
Der Streit um das Kreuz im Klassenzimmer hat die europäische Ebene erreicht. Eine Klägerin aus Italien, welche die Entfer-nung des Kreuzes durch die Instanzen der italienischen Justiz erfolglos betrieben hatte, wandte sich an den Europäischen Ge-richtshof für Menschenrechte in Straßburg (übrigens kein Organ der EU, sondern dem Europarat zugeordnet).
Die Argumente, die Hintergründe und das Urteil selbst, glei-chen denen vor knapp eineinhalb Jahrzehnten in Deutschland, als das Bundesverfassungsgericht zu seinem berühmt-berüchtigten Spruch kam. Die Hintergründe: Genau wie damals stand hinter der Klägerin eine atheistische Vereinigung mit Rat und Geld. Wir haben nicht nur in Deutschland, was beim Berliner Volksentscheid über den Religionsunterricht offen-sichtlich wurde, einen organisierten Atheismus, der gegen die Kirche kämpft.
Die Argumente: Erstens, der Staat sei weltanschauungsneutral. Er habe die Religionsfreiheit aller seiner Bürger zu schützen. Er könne deshalb in seinen Einrichtungen, also auch in der staatlichen Schule, keine religiösen Symbole dulden. Nun ist aber der Staat mehr als der Inhaber hoheitlicher Gewalt. Er ist nicht ablösbar von der Gesellschaft und ihrer, über Jahr-hunderte hinweg geprägten Kultur. Soll demnächst Dantes „Gött-liche Komödie“ aus dem Lehrplan italienischer Schulen gestri-chen werden? Zweites Argument, die atheistische Klägerin sei in ihrem Elternrecht verletzt worden. Nun steht es in der Tat den Eltern zu, ihre Kinder nach den eigenen weltanschaulichen Überzeugungen zu erziehen. Aber wie ist das in der staatlichen Schule? Hier kommen Kinder aus unterschiedlich orientierten Elternhäusern zusammen. Weshalb sollten christlich gesinnte Eltern ihr Kind einer von allen religiösen Symbolen und Bezü-gen gereinigten Schule anvertrauen? Ist die Entfernung des Kreuzes nicht auch eine Beeinträchtigung der Religionsfreiheit von Eltern und Kindern? Und vielleicht sogar die Tiefgreifen-dere?
Lange Zeit beruhte die deutsche Rechtssprechung auf genau die-ser Abwägung. Verletzt das Kreuz an der Wand des Unterrichts-raumes das Kind (bzw. die Eltern) in der religiösen Freiheit so stark, dass die Verletzung der positiven Religionsfreiheit von Eltern, die ihr Kind christlich erziehen, durch die Abnah-me des Kreuzes geringer erscheint? Die deutschen Gerichte ha-ben diese Frage jahrzehntelang verneint – bis das Verfassungs-gericht 1995 eine argumentative Kehrtwende vollzog.
Der Gerichtshof in Straßburg steht, möchte man meinen, im Dienst der europäischen Idee. Er würde dieser Idee dienen, wenn er seine Blindheit gegenüber der kulturellen Identität Europas und dessen einzelner Länder ablegen könnte und wenn er im Widerstreit grundrechtlicher Ansprüche zum Prinzip der Ab-wägung zurückkehrte.