Mangelnde Achtung
Dem anderen Achtung entgegenzubringen – möchte man meinen –, sei eine von niemandem bestrittene Pflicht. Wir alle leben von dem „Re-spekt“ der Mitmenschen. Er ist gleichsam die unterste oder besser elementare Stufe in der Anerkennung der Person des anderen. Und zugleich ist er die Voraussetzung dafür, dass der einzelne in der Gemeinschaft seinen Platz und seine Entfaltungschancen findet. Wo diese Achtung dem anderen versagt wird, führt dies – man könnte dies am einfachen Beispiel eines Schulkindes, das von der Klasse gemobbt wird, zeigen – im besten Fall zum Rückzug.
Bis heute dauert das Rätselraten an, was den Bundespräsidenten Horst Köhler bewogen hat, nach sechs Jahren und im ersten Jahr nach der Wiederwahl sein Amt niederzulegen. Könnte es nicht sein, dass es aus Selbstachtung geschah? Weil ihm, nicht von der breiten Mehrheit der Bevölkerung, aber von den mächtigen Meinungsbildnern in Politik und Publizistik jenes besagte Minimum an Achtung vorenthalten wurde? Und weil ihm möglicherweise das Verständnis seines Amtes verbot, die Kritik zu erwidern und in den Ring der politischen Auseinandersetzung zu steigen?
Nun wäre zu erwarten gewesen, der überraschende Schritt des Präsidenten hätte Nachdenklichkeit bei den Akteuren erzeugt. Nichts von dem. Parteien und Publizisten nutzten schon die Präsentation der Kandidaten zu unwürdigen, ins Persönliche gehenden Attacken. Ihr Kandidat, sagte der Vorsitzende der Sozialdemokraten, habe „ein Leben“ vorzuweisen, der Kandidat der anderen nur eine politische Karriere. Sagte es, und schämte sich nicht. Im Kulturteil einer großen süddeutschen Tageszeitung stand zu lesen, der Kandidat G. verfüge über Charisma, wohingegen der Kandidat W. im Grunde nur ein Funktionär sein. Und wer wollte schon einen Präsidenten, dessen Persönlichkeit von der Seelenlosigkeit des Funktionärstums zerfressen ist. Anderswo wurden wir in schönem Sprachspiel belehrt, W. sei „beliebt, wegen der Beliebigkeit“. Das soll heißen: W. fehle es an jeglicher tiefer Überzeugung.
Wenn demnächst wieder jemand sein Amt zur Verfügung stellen sollte, weil er die Aberkennung jeder Achtung als Mitgift des Amtes nicht akzeptiert und weil er weder sich noch seiner Familie solches zumutet, wird man auch ihm wieder einige Boshaftigkeiten nachwerfen. So wie jener bedeutende Ressortleiter einer Zeitung, ein unentwegter Kritiker Horst Köhlers, der diesem zuletzt noch das Wort nachschleuderte, er sei eine „beleidigte Leberwurst“.
Aber richten wir den Blick weg von der Politik, hin zur Kirche. Es sage niemand, hier gäbe es die Versuchung der Verweigerung der Achtung gegenüber dem anderen nicht. Dabei stehen wir Christen unter einem höheren Anspruch, als nur den Voraussetzungen einer zivilisierten Gesellschaft zu genügen.