Sie sind selbst Betroffener von sexualisierter Gewalt. Sie wurden als Kind von Ihrem Heimatpfarrer missbraucht. Diesen Missbrauch haben Sie lange verdrängt. War das überlebensnotwendig für Sie?
Ich hatte das Erlebte bis ins Jahr 2010 verdrängt. Als damals über die Missbrauchsfälle von Ettal berichtet wurde, sind meine Erinnerungen wiedergekehrt. Heute weiß ich, dass die Psyche die Fähigkeit hat, traumatische Erlebnisse in Kindheit oder Jugend aus Selbstschutz ganz tief in die Vergessenheit zu schieben.
Haben Sie als Betroffener eine andere Gesprächsgrundlage mit anderen Missbrauchsbetroffenen?
Ich glaube, dass ich selbst Betroffener bin, ist eine gute Voraussetzung, um mit anderen Betroffenen ins Gespräch zu kommen. Da ist eine gemeinsame Basis. Ich kann mich anders in jemanden hineinfühlen, der das erlebt hat, als jemand, der das nur theoretisch bearbeitet hat.
Ich werde von Betroffenen sexualisierter Gewalt als jemand wahrgenommen, der weiß, wovon er redet – wobei jeder Betroffene seine eigene Geschichte und seine eigenen Gefühle hat. Jeder geht anders mit diesen traumatischen Erfahrungen und Erlebnissen um.
Wie gehen Sie auf die Menschen zu, die sich bei Ihnen melden?
Meine Aufgabe ist es, Menschen zuzuhören, sie in ihren Fragen, ihrem Suchen, aber auch in ihrem Zorn, ihrer Wut und ihrer Enttäuschung zu begleiten und ernstzunehmen. Und es geht darum, ihnen Hilfe anzubieten, soweit das möglich ist.
Welche Art von Hilfe wird konkret verlangt?
Das ist ganz unterschiedlich. Es rufen Menschen an, die ganz konkrete materielle Hilfe suchen. Wir erleben zum Beispiel Menschen, die in den 1950er und 1960er Jahren missbraucht wurden. Aufgrund ihrer Missbrauchserlebnisse konnten sie oft keinen Beruf erlernen. Deshalb müssen sie heute von einer minimalen Rente leben. Wir haben zum Beispiel gerade eine Anfrage, wo jemand einen Platz in einem Seniorenheim sucht mit der Bitte, dass die Erzdiözese dabei finanziell mithilft. Neben dem Wunsch nach finanzieller Anerkennung oder nach Therapien gibt es auch die Frage nach seelsorglicher Hilfe. Diese Menschen beschäftigt, wo Gott damals war, als sie missbraucht wurden.
Was sagen Sie diesen Menschen?
Es gibt da keine vorgefertigten Antworten. Es geht vielmehr dar-um, Menschen im Gespräch das Gespür zu geben, dass selbst damals Gott da war, als der Leidende, der mitgelitten hat in dieser Situation und in dieser Verlassenheit. Es geht manchmal auch darum, das Schweigen mit jemandem auszuhalten, der das Empfinden hat, von Gott verlassen gewesen zu sein.
Sie sind auch Mitglied des Betroffenenbeirats...
Ich bin von Anfang an dabei. Dort ist viel Vertrauen gewachsen. Der Betroffenenbeirat überlegt, geht Dinge an, hört andere Betroffene und bringt Impulse ein. Nicht zuletzt ist diese Stabsstelle, die ich leite, auf die Bitte des Betroffenenbeirats zurückzuführen.
Was treibt Sie als Seelsorger an?
Was mich immer in meinem priesterlichen Tun angetrieben hat, ist das Vorbild Jesu: Dass er mit Menschen auf dem Weg war, dass er sie geheilt hat. Ich bin kein Heiler, aber ich kann dabei unterstützen, dass Menschen vielleicht Wege gehen können, die zur Heilung beitragen. Jesus hat den Menschen das Reich Gottes aufgeschlossen. Und das ist auch ein Stück weit meine Aufgabe in unserer Zeit: Davon zu sprechen, dass es Gott gibt und dass er mitten unter uns da ist, und so zu leben.
Für mich gab es immer, auch in allen Krisen, die ganz tiefe Gewissheit: Gott ist da und er trägt und hält mich. Dieses Ich-bin-da ist für mich wie ein Lebenselixier.