Nach der Aufführung ist ein Mann zu Andrea Elisabeth Lutz gekommen: „Mir ist dasselbe passiert“, hat er gesagt und dann zu berichten begonnen. So wie bei „Here we are“ ist es bei fast jedem Kunstprojekt, bei dem es um das Thema sexueller Missbrauch geht. Und bei nahezu jedem Projekt sagen ihr einzel-ne mitwirkende Künstler, dass auch sie missbraucht wurden. Dies zwar nicht im kirchlichen Kontext, sondern oft im privaten Umfeld. Doch das will sie nicht als Relativierung des Geschehenen verstanden wissen. „In der Kirche ist vielen Menschen schlimmes Leid zugefügt worden. Ich denke, dass wir keine Erneuerung der Kirche hinbekommen, solange wir diese offenen Wunden nicht bearbeiten. Dass ich mich hier engagiere, ist mein Beitrag, die Kirche, die ich liebe, ein Stück weit in die Zukunft zu führen“, erklärt Andrea Elisabeth Lutz, die auch „Shadowlight“ und „Transformation“ auf den Weg gebracht hat.
Die Kunstprojekte bringen Unsagbares auf die Bühne und in die Kirchen. Die Zuschauer erleben ganzheitlich, was Betroffene von sexuellem Missbrauch erlitten haben. „Das ist ganz anders, als nur Zahlen in der Zeitung zu lesen. Da bleibt oft nur Information für den Kopf – ein Kunstprojekt ergreift das Publikum dagegen ganzheitlich. Es erlebt die Gefühle mit und wird davon tief berührt und wachgerüttelt“, erklärt Andrea Elisabeth Lutz. Dadurch würden die Zuschauerinnen und Zuschauer motiviert, künftig genauer hinzuschauen, wenn ihnen etwas seltsam vorkommt. Und bei Betroffenen würde vielleicht „ein Stein ins Rollen gebracht in Richtung Aufarbeitung“. Gleichzeitig sind die Kunstprojekte ein Statement gegen das Leugnen und Wegschauen früherer Zeiten.
Wenn Andrea Elisabeth Lutz ein Kunstprojekt vorbereitet, weiß sie anfangs oft noch gar nicht, ob und wie es sich umsetzen lässt. „Zuerst lade ich die Betroffenen und einige Künstler, von denen ich denke, dass sie gut dazu passen könnten, zum Frühstück ein. Wir reden miteinander, erzählen uns, hören einander zu. Manch-mal weinen wir auch miteinander. Und dann machen wir uns mit-einander auf den Weg“, berichtet sie. Nach und nach entsteht das Kunstprojekt, wie es dann öffentlich erlebt werden kann.
Shadowlight
Am 16. Oktober 2021 wurde „Shadowlight“ in St. Korbinian in München-Sendling aufgeführt, eine Videokunst-Installation von Philipp Geist, verbunden mit einer Tanzchoreografie von Pedro Dias sowie Lesungen von Texten Betroffener.
Transformation
Dieses musikalisch-szenische Signal von Konstantia Gourzi gegen Kindesmissbrauch wurde am 6. Oktober 2018 als Kompositionsauftrag der Erzdiözese in Rom uraufgeführt. Anlass war die Eröffnung des Kinderschutzzentrums der Päpstlichen Universität Gregoriana. Es handelt sich um sieben Stationen für zwei Soprane, zwei Mezzosoprane, Herrenchor, Kinderchor, sieben Instrumentalsolisten, Tänzer und Publikum nach Texten von Missbrauchsbetroffenen.
Here we are – Missbraucht. Verraten! Hoffnung?
Am 15. Oktober 2022 wurde „Here we are“ im Rahmen der „Langen Nacht der Museen“ in der voll besetzten Herz-Jesu-Kirche in München- Neuhausen dreimal aufgeführt. In die kunstspartenbergreifende Performance waren mehr als 100 Mitwirken-de einbezogen. Neben einer Text- und Bildprojektion war eine Choreografie von Pedro Dias zu sehen. Zu hören waren Kompositionen von Mathias Rehfeldt mit Chor und Musikern des Bayerischen Staatsorchesters sowie dem Kinderchor der Bayerischen Staatsoper unter Leitung von Stellario Fagone.