Es ist ein seltener Glücksfall, wenn der Kunstgeschichte heute noch neue Einblattholzschnitte aus dem Mittelalter bekannt werden. Ein solcher Glücksfall ereignete sich kürzlich im Archiv des Erzbistums München und Freising bei der Neubearbeitung und Digitalisierung des Bestandes „Salzburg“.
Dabei handelt es sich um Unterlagen, die nach der Säkularisation 1802/03 und der Neugliederung der bayerischen Bistümer 1821 aus verschiedenen Verwaltungsstellen des Erzbistums Salzburg an das Ordinariat des neuen Erzbistums München und Freising abgegeben wurden – zum Beispiel aus dem Archiv des Archidiakonats Gars. Die Pröpste des Augustiner-Chorherrenstifts Gars am Inn hatten in ihrer zusätzlichen Funktion als Archidiakone des Erzbischofs von Salzburg jahrhundertelang einen Teil des ausgedehnten Salzburger Diözesansprengels auf bayerischem Boden verwaltet. Die dabei entstandenen Unterlagen, die im frühen 19. Jahrhundert ihren Weg von Gars nach München und schließlich ins Archiv des Erzbistums fanden, reichen zurück bis ins späte Mittelalter.
In einen Band, der die Konsistorialprotokolle des Archidiakonats Gars aus den Jahren 1475-1488 enthält, ist – wie damals nicht ungewöhnlich – zur Zierde vorne ein ungefähr zeitgleicher, kolorierter Holzschnitt eingeklebt. Er zeigt in traditioneller Komposition Christus am Kreuz zwischen der trauernden Maria und dem jugendlichen Apostel Johannes. Während die Maserung des Kreuzesholzes und die zusammengesunkene Gestalt des Gekreuzigten schon vom Holzschneider angelegt sind, wurde das Blut, das reichlich aus den beiden Handwunden fließt, erst bei der Kolorierung hinzugefügt. Handschriftlich sind über und unter dem Querbalken des Kreuzes die Anfänge des Matthäus- und des Johannes-Evangeliums eingetragen.
Man sieht dem Holzschnitt an, dass er schon Einiges hinter sich hat: Der hölzerne Druckstock war (nach vielleicht einigen hundert Abzügen) schon deutlich abgenutzt; einige feine Linien – wie an den Heiligenscheinen von Maria und Johannes – zeichnen sich kaum mehr ab. Der Abzug zeigt Ausrisse am Rand und mehrere Löcher, die auf Wurmfraß zurückgehen dürften. Folglich kann der Holzschnitt erst bei einer späteren Neubindung des Protokollbandes auf sein heutiges, unbeschädigtes Trägerblatt gelangt sein. Man darf aber annehmen, dass er schon ursprünglich zu diesem Band gehört hat.
Trotz des etwas ramponierten Zustandes ist die Entdeckung dieses Holzschnitts ein Glücksfall für die Wissenschaft. Denn von vielen mittelalterlichen Grafiken ist heute überhaupt kein Exemplar mehr erhalten; von vielen anderen blieb nur ein einziges erhalten. So war bis vor kurzem auch von dieser Kreuzigungsdarstellung nur ein Abzug bekannt. Er befindet sich im hinteren Einbanddeckel einer Sammelhandschrift aus dem Kloster Ebersberg, die kurz vor 1470 entstand und sich seit der Säkularisation in der
Bayerischen Staatsbibliothek (Signatur Cgm 673) befindet.
Das nun entdeckte zweite Exemplar aus dem Garser Protokollband bestätigt die Vermutung, dass der Holzschnitt um 1460/70 im Südosten Bayern entstand, und belegt, dass man Druckstöcke für Holzschnitte über längere Zeit, auch noch in abgenutztem Zustand verwendet hat. Ein Glück ist es auch, dass sich beide Exemplare noch in den Handschriften befinden, zu deren Ausschmückung man sie vor langer Zeit verwendet hat. Denn in kunsthistorischem Übereifer hat man seit dem 19. Jahrhundert oft die Grafiken aus den Handschriften gelöst und in Grafiksammlungen überführt, ohne ihren ursprünglichen Verwendungszusammenhang zu dokumentieren.
Der Band aus dem Archidiakonat samt dem raren Holzschnitt ist inzwischen
im Digitalen Archiv des Erzbistums online einsehbar. Der Kreuzigungs-Holzschnitt findet sich auf Bild [6].
AEM Salzburg S119