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Archiv-Geheimnisse – Zwischen Vertuschungsvorwurf und Persönlichkeitsschutz | #TagderArchive

Wie gehen kirchliche Archive mit der Zugänglichkeit von Archivbeständen um? Archiv-Geheimnisse und der Vorwurf der Vertuschung liegen in der öffentlichen Wahrnehmung eng beisammen. Weniger bekannt sind die Rechtsgrundlagen für den Umgang mit Archivalien. Dr. Roland Götz verdeutlicht diesen Aspekt an historischen und aktuellen Beispielen aus dem Archiv des Erzbistums München und Freising – ein Beitrag zum BlogSlam der bayerischen Archive am Tag der Archive 2022.
 
Gerade die kirchlichen Archive sind für viele bis heute mit der Aura des Geheimnisvollen umgeben. Ihnen stehen von Romanen und Filmen her solche oder ähnliche Bilder vor Augen:
  • In dunklen Gewölben halten ebensolche Gestalten hochbrisante Unterlagen versteckt. Denn ihr Bekanntwerden würde die Glaubenslehre oder das Kirchensystem zum Einsturz bringen.
  • Oder (man denke an Dan Browns Bestseller „Illuminati“ und dessen Verfilmung aus dem Jahr 2009): In hell ausgeleuchteter Hightech-Umgebung wird mit modernsten Mitteln dasselbe dunkle Ziel verfolgt.
Und weit jenseits solcher Klischees ist verständlicherweise in der aktuellen Diskussion um den Umgang der Katholischen Kirche mit Fällen sexuellen Missbrauchs der ernste Vorwurf der Vertuschung präsent, gerade auch gegenüber den kirchlichen Archiven.
 
Früher war – nicht nur bei Kirchenarchiven – Geheimhaltung wirklich ein wichtiges Ziel: Denn man sah das Archiv primär als juristische „Waffenkammer“ zur Sicherung von Rechten und Besitz an. In diese sollte möglichst kein Außenstehender Einblick haben. Zudem wollte man jeden Anlass zur Kritik an der Kirche vermeiden.
 

Archiv-Geheimnisse und Leitlinien der archivarischen Arbeit

Dem heutigen Selbstverständnis der kirchlichen Archivarinnen und Archivare entspricht das nicht. 1997 formulierte die Päpstliche Kommission für die Kulturgüter der Kirche in ihrem Rundschreiben „Die pastorale Funktion der kirchlichen Archive“ programmatisch:
  • Die kirchlichen Archive sind „Erbe der ganzen Menschheit“.
  • Ihre Nutzung ist deshalb Forschenden „ohne ideologische und religiöse Vorurteile“ möglich.
  • Und: Leitlinien der archivarischen Arbeit sind „uneigennützige Öffnung, wohlwollende Aufnahme und sachkundiger Dienst“.
In diesem Sinn hat Papst Franziskus 2019 für das päpstliche Zentralarchiv die Ersetzung der missverständlichen Bezeichnung „Vatikanisches Geheimarchiv“ (Archivum Secretum Vaticanum) durch „Vatikanisches Apostolisches Archiv“ (Archivum Apostolicum Vaticanum) angeordnet.
 
Natürlich müssen früher wie heute die Archive darauf achten, dass die ihnen anvertrauten Unterlagen sicher durch die Zeiten kommen. Das bedeutet, dass sich nicht jeder an den Regalen selbst bedienen kann. Aber sie wollen auch, dass die wertvollen historischen Quellen von Forscherinnen und Forschern genutzt werden. Ziel ist ein möglichst objektives Bild der Kirchengeschichte, das auch dunkle Stellen nicht ausspart.
 
Grenzen setzt die in allen katholischen Bistümern Deutschlands geltende Kirchliche Archivordnung von 2013/15 verständlicherweise dort (und nur dort), wo schützenswerte persönliche Daten Betroffener oder Dritter berührt sind. Aber wenn es um die Aufklärung von Verbrechen geht, werden auch solche Unterlagen selbstverständlich den zuständigen Stellen zur Verfügung gestellt. Sie können  unter definierten Bedingungen auch wissenschaftlich ausgewertet werden.
 
Sind die rechtlichen Schutzfristen abgelaufen, kann heute jeder und jede Interessierte – vom Schüler bis zur ausgewiesenen Wissenschaftlerin – die Archivunterlagen einsehen und dabei auch vieles entdecken, was zum Zeitpunkt der Entstehung oder noch länger streng geheim war.
 

Geheime Archivunterlagen: Drei historische Beispiele

Dazu drei Beispiele aus drei Jahrhunderten aus dem Archiv des Erzbistums München und Freising:
 
1. Der Fall des Chorherrn P. Anton Neuner aus dem Augustiner-Chorherrenstift Schlehdorf
1770 hatte sich der Geistliche Rat des Bischofs von Freising (die Vorgängerbehörde des heutigen Ordinariats) mit einem schockierenden Fall aus dem Augustiner-Chorherrenstift Schlehdorf zu befassen. Dem Chorherrn P. Anton Neuner (*1730) wurden von seinem Propst die Schwängerung einer Frau aus dem Ort mit anschließender Kindstötung sowie unerlaubtes Verlassen des Klosters vorgeworfen.
 
Eine wichtige Rolle spielten in diesem Verfahren mehrere Kalender mit Eintragungen in einer Geheimschrift, einer Mischung aus Zahlen und griechischen Buchstaben. Sie stammen wohl vom Beschuldigten und dokumentieren u. a. zahlreiche Treffen mit der Frau.
 
Dem Erzbischöflichen Archivar Heinrich Held (1869-1953) erschienen noch vor 100 Jahren diese Unterlagen so brisant, dass er die Herausgabe untersagte. Entsprechend brachte er auf dem Akt den Vermerk „ist auszuschließen von d[er]. Benutzung“ an.
 
Heute kann, wer will, sich ungehindert mit diesem Fall und den geheimen Aufzeichnungen (die im Bestand „Klosterakten“ archiviert sind) befassen. Das Entziffern ist mühsam, aber möglich; denn den Akten liegt ein Schlüssel des Codes bei.
Kalender von P.  Anton Neuner und Schlüssel zur Geheimschrift
Kalender von P. Anton Neuner und Schlüssel zur Geheimschrift (Foto: Robert Kiderle, München)
2. Der Fall der Altöttinger Apothekertochter Louise Beck
In zumindest seltsame Vorgänge anderer Art waren in der Mitte des 19. Jahrhunderts mehrere Ordensgeistliche aus dem Erzbistum und auch Generalvikar Dr. Friedrich Windischmann (1811-1861) verwickelt: In Altötting hatte sich um die Apothekertochter Louise Beck ein Kreis von Anhängern gebildet. Louise vermittelte angeblich Weisungen einer „Höheren Leitung“ aus dem Jenseits und gewann damit sogar Einfluss auf kirchenpolitische Entscheidungen.
 
Im Hintergrund standen schwer durchschaubare Vorgänge:
  • unerlaubte sexuelle Beziehungen,
  • geistliche Abhängigkeit
  • und Erpressung.
 
1865 begann im Auftrag des Erzbischofs Gregor von Scherr eine Untersuchung. Die Akten dazu wurden später versiegelt. Sie durften nur mit spezieller Erlaubnis des Erzbischofs oder des Generalvikars eingesehen werden. Das ist längst nicht mehr so. Sie wurden seit 1977 mehrfach gründlich ausgewertet. Zuletzt hat der Ordenshistoriker Otto Weiß (1934-2017) in seinen Büchern „Weisungen aus dem Jenseits“ (2011) und „Die Macht der Seherin von Altötting“ (2015) die abenteuerliche Geschichte rund um Louise Beck publiziert.
 
Seit 2020 sind die Unterlagen im Digitalen Archiv des Erzbistums vollständig online einzusehen (im Bestand „Generalvikariat“ R3813 bis R3820) – einschließlich der alten Aktenumschläge mit den Sperrvermerken.
Ehemals versiegelte Akten zum Fall „Louise Beck“
Ehemals versiegelte Akten zum Fall „Louise Beck“ (Foto: Robert Kiderle, München)
3. Die Tagebücher des Erzbischofs Michael Kardinal von Fauhlhaber
Erzbischof Michael Kardinal von Faulhaber hielt während seiner langen und bewegten Amtszeit (1917-1952) Daten, Partner und die wichtigsten Inhalte seiner zahllosen Gespräche fest. Ursprünglich waren diese Besuchstagebücher allein als Gedankenstütze für die bischöfliche Arbeit gedacht. Heute sind sie ein ungeheurer Informationsschatz für Historiker. Allerdings hatte seit dem Tod des Kardinals dessen letzter Sekretär die Tagebücher bei sich verwahrt und nur fallweise Forschern Auskunft daraus erteilt. Erst durch die Überführung ins Erzbischöfliche Archiv 2010 wurde eine geregelte Nutzung möglich.
 
Weil Kardinal Faulhaber seine Aufzeichnungen in der damals gängigen Gabelsberger-Stenographie machte, die heute kaum mehr jemand lesen kann, arbeitet seit 2013 ein wissenschaftliches Projekt daran, den gesamten Text in einer kommentierten Online-Edition allgemein zugänglich, versteh- und recherchierbar zu machen.
Tagebucheintrag von Erzbischof Michael Kardinal von Faulhaber in Gabelsberger-Kurzschrift zu seinem Treffen mit Adolf Hitler auf dem Obersalzberg am 4. November 1936
Tagebucheintrag von Erzbischof Michael Kardinal von Faulhaber in Gabelsberger-Kurzschrift zu seinem Treffen mit Adolf Hitler auf dem Obersalzberg am 4. November 1936 (Foto: Archiv und Bibliothek des Erzbistums München und Freising)
 

Aktuell: Auswertung von Aktenbeständen zu sexuellem Missbrauchen

Von den letzten Jahren der Amtszeit von Kardinal Faulhaber bis 2019 reicht der Untersuchungszeitraum des Gutachtens „Sexueller Missbrauch Minderjähriger und erwachsener Schutzbefohlener durch Kleriker sowie hauptamtliche Bedienstete im Bereich der Erzdiözese München und Freising von 1945 bis 2019 – Verantwortlichkeiten, systemische Ursachen, Konsequenzen und Empfehlungen“. Dieses erstellte die Münchner Anwaltskanzlei Westpfahl Spilker Wastl im Auftrag der Erzdiözese und präsentierte es am 20. Januar 2022 der Öffentlichkeit.
 
Für das Gutachten wertete die Kanzlei umfangreiche, auch aus Gründen des Daten- und Persönlichkeitsschutzes noch nicht für die allgemeine Nutzung freigegebene Aktenbestände aus dem Archiv des Erzbistums und dem Erzbischöflichen Archiv aus. Unter anderem  auf dieser Grundlage konnte sie sowohl Missbrauchsfälle als auch „deren Sachbehandlung durch kirchliche Verantwortungsträger“ dokumentieren.
 

Fazit

Die angeführten Beispiele zeigen eine deutliche Entwicklung: Früher diente die Geheimhaltung von Archivunterlagen vor allem dem Schutz des Archivträgers. Heute sind in erster Linie die Rechte Betroffener und Dritter die Güter, die es durch Zugangsbeschränkungen zu schützen gilt. Zugleich schafft eine fachgerechte Archivierung langfristig die Grundlage dafür, einst geheime Vorgänge aufzuklären.
 
Autor: Dr. Roland Götz
 
Dr. Roland Götz ist Theologe, Kirchenhistoriker und seit 2019 stellvertretender Direktor von Archiv und Bibliothek des Erzbistums München und Freising. Eine seiner Hauptaufgaben ist dort die historische Bildungsarbeit.