Zeitzeugenberichte im Landkreis Ebersberg

Chancen und Probleme von Erinnerungsquellen

Dr. Martina Bauernfeind, Stadtarchiv Nürnberg


Mit den amtlichen und kirchlichen Berichten des Office of Military Government for Bavaria (OMGBY) sowie des Erzbistums München und Freising liegt für die letzten Kriegs- und ersten Nachkriegstage im Landkreis Ebersberg ein vorzügliches Quellen-fundament aus den diametral entgegengesetzten Perspektiven der „Besatzer“ einer-seits und der „Besetzten“ andererseits vor. Neben ereignis- und verwaltungsrelevanten Gesichtspunkten tangieren die Quellen auch sozialgeschichtliche Aspekte. Er-eignisse außerhalb des Focus der dokumentierenden Behörde, Verborgenes und scheinbar Belangloses wie auch Lebensgefühl, Empfindungen und Emotionen der Zeitgenossen werden hingegen nur teilweise aktenkundig. Generell spiegeln sich Alltagserfahrungen schreibunkundiger oder schreibungeübter Personenkreise kaum in schriftlichen Quellen wider. Je dürftiger die amtliche und kirchliche Überlieferung diesbezüglich ist, desto mehr wächst die Bedeutung von Sammlungen privater Pro-venienz wie z. B. Nachlässe, Briefwechsel, selbstverfasste Erinnerungen, Tagebuch-aufzeichnungen oder auch Fotos. Anders als die Überlieferung amtlicher Dokumente, die aufgrund gesetzlicher Regelungen an die einschlägigen Archive gelangen, müssen diese akquiriert werden, zum Beispiel durch die Sammlung autobiographischen Materials oder durch die Hebung schriftlich und mündlich erfragter Geschichte, der Oral History. Neben der Eindimensionalität vorhandener Quellengattungen arbeitet vor allem die Zeit als Motor zur Hebung von Augenzeugenberichten. Denn gerade jetzt kann sich noch die Generation äußern, die sich an die letzten Kriegs- und ersten Nachkriegsjahre und ihre Folgen erinnert.

Verschriftlichte Erinnerung
Im Gedenkjahr 1995, 50 Jahre nach Kriegsende, widmete die Ebersberger Zeitung (EZ) eine auf Zeitzeugenberichten basierende Artikelserie dem Thema „Vor 50 Jahren. Das Kriegsende im Landkreis“. Die mit 50 Folgen breit angelegte Rubrik doku-mentiert nicht nur das offensichtlich große Interesse der Leserschaft am Thema, sondern schuf auch eine anschauliche Supplementärquelle, auf die die Schüler und Schülerinnen bei ihrer Darstellung der Ereignisse zurückgreifen konnten. So ergänzt etwa der Erinnerungsbericht von Josef Staudter, abgedruckt in der EZ vom 2.5.2005, den Einmarschbericht des Pfarrers Martin Guggetzer für Ebersberg. Den Schülern stand zudem ein breites Spektrum an Erinnerungsliteratur zur Verfügung, in der Zeitzeugen detailliert und aus sehr persönlicher Sicht ihre eigenen Erlebnisse rückblickend darstellen. In diesem Kontext besonders ergiebig waren die Aufzeichnungen von Christian Oswald, Die letzten Kriegs- und die ersten Nachkriegstage. Ende April – Anfang Mai 1945 in Markt Grafing, Ebersberg 2005.

Oral History
Wie die verschriftlichte Erinnerungsgeschichte ist auch die mündlich erfragte Ge-schichte wegen ihres individuellen Blickwinkels subjektiv, einseitig, zufällig und erfor-dert daher ein quellenkritisches Verfahren. Auch können durch Augenzeugenberichte allein keine historischen Fakten erhoben oder verifiziert werden. Aber sie liefern neben einer Fülle an Information ein Stimmungsbild, reflektieren Atmosphäre, Aura, Bewusstsein und Mentalität der Zeitgenossen. Gerade in der Subjektivität der Oral History liegt auch ihr Quellenwert. Hier geht es nicht um die Perfektion der Darstel-lung, um Repräsentativität oder um die Rekonstruktion von Ereignissen nach heutigen Deutungsmustern. Vielmehr vergegenwärtigt der Zeitzeuge im Idealfall die Er-eignisse im Gespräch nochmals, taucht in die Geschehnisse ein und schildert sie aus zeitgenössischer Perspektive unter Verwendung des damals üblichen Vokabulars und sprachlichen Wendungen. Außerdem bietet die Oral History mit der Forschungs-perspektive der „Geschichte von unten“ mit einer bewusst alltags- und schichtbezo-genen Prononcierung den Gegenentwurf zur (kirchen-)behördlichen Überlieferung, also der Überlieferung sozialer Eliten. Als Forschungstechnik in der Sprach- und Dia-lektforschung sowie in analphabetischen Kulturen hat die Oral History nahezu Schlüsselbedeutung. Und nicht zuletzt bietet der mündliche Zeitzeugenbericht einen Vorteil, den keine andere Quelle bei ihrer Hebung aufzuweisen hat: Man kann nach-fragen.

Diese Möglichkeit nutzten die Klassen 9a und 9d des Humboldt-Gymnasiums, die den Altbürgermeister Franz Pfluger der Gemeinde Zorneding aus dem Landkreis Ebersberg als Zeitzeugen einluden. Selbst Geburtsjahrgang 1944 und damit frei von stigmatisch belasteten Erlebnissen im Dritten Reich, lag sein Erinnerungsschwerpunkt auf der materiellen Not und den Überlebensstrategien der ersten Nachkriegsjahre. Seine detaillierte und anschauliche Schilderung der Praxis der illegalen Schlachtungen, die in dieser Form nicht aktenkundig wurden, verweist einmal mehr auf die Bedeutung der Oral History und schließt eine Lücke in der landes- und sozialgeschichtlichen Überlieferung. Aufgrund seines Alters zwar nicht aktiv am Geschehen beteiligt, tradierte der Zeitzeuge Informationen aus dem kollektiven Gedächtnis der Familie und seines unmittelbaren persönlichen Umfelds und zeichnete so Milieu und Atmosphäre der ersten Nachkriegsjahre nach.

Als Alternative zu der in narrativer Form präsentierten Erfahrungsgeschichte besteht die Möglichkeit des Interviews auf Grundlage eines speziell erarbeiteten Frageleitsystems. Nicht zuletzt aufgrund neuer technischer Möglichkeiten kommt durch die Tonaufnahme des Gesprächs zum Quellenspektrum in Schrift, Bild und im Falle der Museen in Objekt somit die auditive Überlieferung. Die anschließende Verschriftlichung der Aufnahme macht die Quelle zugänglich, zitabel und unabhängig von technischen Bedingungen sicherbar.

Quellenkritik
Beide Varianten, Interview und narrativer Monolog, setzen eine intensive inhaltliche Vorbereitung durch den Befragenden voraus. Neben biographischen Vorkenntnissen muss der Interviewer auch mit der Gesamtthematik und den historischen Zusam-menhängen vertraut sein, um nicht Irrtümern aufzusitzen, ungefiltert Selbstinterpreta-tionen zu übernehmen oder um kompetent nachfragen zu können. Die Bedeutung der inhaltlichen Souveränität wächst, je größer der Altersabstand des Befragenden zum Zeitzeugen wird. Dies gilt vor allem dann, wenn belastete oder Tabu-Themen behandelt werden, also z. B. NS-Verbrechen, Zugehörigkeit zu NS-Organisationen usw. Ohne Suggestivfragen zu stellen, gibt der Interviewer die richtigen Impulse und nimmt damit Einfluss auf den Quellenwert. Der Interviewer muss dafür möglicherwei-se seine Zurückhaltung aufgeben, investigativ nachfragen, falsche Angaben erkennen und verifizieren und den Zeitzeugen wenn nötig zum Hauptstrang des Gesprächs zurückführen. Am Schluss stehen die wissenschaftliche Interpretation der erinnerten Geschichte und das Einfügen in den auf breiter Quellenbasis rekonstruierten historischen Gesamtzusammenhang.

Literatur:
Bauernfeind, Martina, „Zuwanderung nach Nürnberg nach 1945 bis heute“. Das Zeit-zeugenprojekt des Stadtarchivs, in: Norica 4, Berichte und Themen aus dem
Stadtarchiv Nürnberg, Hg. Stadt Nürnberg, Stadtarchiv, 2008, S. 41-61.
Bühl-Gramer, Charlotte, Lehrerkompetenzen für den Geschichtsunterricht – das
Beispiel der „Oral History“, in: Norica 4, Berichte und Themen aus dem Stadtarchiv Nürnberg, Hg. Stadt Nürnberg, Stadtarchiv, 2008, S. 105-108.
Dejung, Christoph, Oral History und kollektives Gedächtnis. Für eine sozialhistorische Erweiterung der Erinnerungsgeschichte, in: Geschichte und Gesellschaft. Zeitschrift für Historische Sozialwissenschaft, 34. Jg./Heft 1, 2008, S. 96-115.
Geppert, Alexander C. T., Forschungstechnik oder historische Disziplin? Methodische Probleme der Oral History, in: Geschichtsunterreicht heute. Grundlagen – Probleme – Möglichkeiten, Seelze-Velber 1999, S. 123-139.
Plato, Alexander von, Oral History als Erfahrungswissenschaft. Zum Stand der „Mündlichen Geschichte“ in Deutschland, in: Jörn Rüsen (Hg.), Beiträge zur
Geschichtskultur, Bd. 5, Hagen 1991, S. 418-439.
Vorlände, Herwart (Hg.), Oral History. Mündlich erfragte Geschichte, Göttingen 1990; Wierling, Dorothee, Oral History, in: Aufriß der Historischen Wissenschaften, Bd. 7, Stuttgart 2003, S. 81-151.