Umschlag mit Aufführungsvermerken, 1801-1809; Sopran-Stimme, Papierhandschrift, mit Texten von 1801 und 1809
Das 1133 gegründete Augustiner-Chorherrenstift Weyarn zeichnete sich im 18. Jahrhundert durch die seelsorgliche Betreuung mehrerer Pfarreien in seiner Umgebung sowie durch die Pflege von Bildung und Kunst aus. Durchschnittlich 18 Chorherren waren in der Pfarrpastoral im Einsatz; gut noch einmal so viele waren im Kloster selbst tätig und kümmerten sich u.a. um das klösterliche „Seminar“. In dieser seit 1643 bestehenden höheren Schule erhielten bis zu 100 Knaben, die aus der ganzen Region und sogar aus München stammten, eine zeitübliche gymnasiale Ausbildung und religiöse Erziehung. Dazu kam täglicher Unterricht im Singen und an Instrumenten, um die Schüler in herkömmlicher Weise zur Gestaltung der Gottesdienste heranziehen zu können.
Das reiche musikalische Leben im Kloster spiegelt sich in dessen Notenbestand, der durch glückliche Umstände nahezu vollständig (mit ca. 630 Handschriften) erhalten geblieben ist und sich heute in der Diözesanbibliothek befindet. Zahlreiche Chorherren komponierten selbst, aber man sammelte auch Abschriften von Werken bekannter Komponisten. All diese Werke waren ‚Gebrauchsmusik‘ und hatten ihren jeweiligen Platz im klösterlichen Leben: Chöre und Soli zu den Singspielaufführungen der Gymnasiasten, ‚Aufzüge‘ mit Pauken und Trompeten zur Begrüßung hoher Gäste, Kantaten zu Festanlässen, Vertonungen der Messtexte, Kantaten und Arien zu bestimmten Anlässen im Kirchenjahr.
Die Kantate „Wohin krochst du Ungeheuer“ entstand im Herbst 1801 zur Feier des 50-jährigen Professjubiläums des Weyarner Propstes Rupert Sigl. Die Musik schuf der ehemalige Münchner Hofkomponist Joseph Willibald Michl, der nun bei Verwandten in Weyarn lebte. Den Text dichtete der Chorherr P. Rupert Seidl; er spielt einleitend auf jüngste politische Ereignisse an: Mit dem „Ungeheuer“, das von Westen her „gewälzt“ kam, ist die französische Armee gemeint, die im 2. Koalitionskrieg Ende 1800 die Umgebung Weyarns besetzt hatte, nach dem Friedensschluss von Lunéville (9. Februar 1801) aber abgezogen war. Das Werk besteht aus 14 Einzelnummern (Rezitativen, Arien, einem Terzett und einem Schlusschor) und ist mit drei Solisten, Chor und einem Orchester (mit Flöten, Oboen, Fagotten, Hörnern, Trompeten, Pauken und Streichern) aufwendig besetzt, was die Leistungsfähigkeit der Weyarner Klostermusik demonstriert.
Mit der Säkularisation des Klosters Weyarn im März 1803 und dem Ende des Seminars endete auch die klösterliche Musikpflege. Die Kirchenmusik in der zur Pfarrkirche umgewidmeten Klosterkirche wurde anfangs noch von einigen am Ort verbliebenen ehemaligen Chorherren mitgetragen, sank aber im Lauf der Zeit auf das Niveau einer Landpfarrei herab.
Ungewöhnlicherweise wurde die Kantate von 1801 in den Jahren 1807, 1808 und 1809 in stark gekürzter Form erneut aufgeführt. Anlässe waren der Namenstag bzw. der Besuch des Grafen Johann V. Maximilian von Preysing-Hohenaschau und des bayerischen Königs Max I. Joseph. Im neu gedichteten Text, der mit dunklerer Tinte unter den ursprünglichen geschrieben ist, werden der Gönner und der Landesherr beglückwünscht und gepriesen.
Alle Aufführungsdaten und -anlässe sind auf dem Umschlag des Notensatzes notiert. Dies lässt in selten deutlicher Weise an einem konkreten Objekt die Zeitenwende zu Beginn des 19. Jahrhunderts nachvollziehen.
Diözesanbibliothek des Erzbistums München und Freising, DBF, WEY 624, Umschlag und Sopran-Stimme