Moral und Wirklichkeit Die diözesanen Sittlichkeits-Akten

Hier steht eine kurze Bildunterschrift zu oben abgebildetem Foto
Schreiben des Pfarrvikars Anton Aigner von Truchtlaching an das Erzbischöfliche Ordinariat München, 6. August 1866, mit Konzept des Antwortschreibens

Dass im 19. Jahrhundert in Bayern nicht-eheliche Geburten rund ein Drittel aller Geburten ausmachten, hatte seinen Grund nicht in einer zunehmenden ‚Unsittlichkeit‘, vielmehr in den Lebensumständen großer Bevölkerungsgruppen. Staatliche Gesetze zur Ansässigmachung und Verehelichung banden die Heirat an eine Genehmigung, die von den Gemeinden bzw. Landgerichten erteilt werden musste. Voraussetzung dafür war der Nachweis finanzieller Mittel, die den Unterhalt einer Familie erlaubten. Deshalb war ein erheblicher Teil der Bevölkerung – insbesondere Dienstboten, Handwerksgesellen und nachgeborene Bauernkinder – erst spät oder nie in der Lage zu heiraten. Der hohe Anteil von Ledigen und von nichtehelichen Geburten war die nahezu zwangsläufige Folge.

Der Blick der Kirche auf dieses Phänomen war freilich hauptsächlich ein moralischer; denn nach ihrer Lehre war Sexualität ausschließlich innerhalb der Ehe erlaubt. 1824 ordnete Erzbischof Lothar Anselm von Gebsattel (reg. 1821-1846) an, „bei dem ersten Fehltritte sowohl den Verführer als die Verführte einzeln mit ihren Eltern oder deren Stellvertretern vorzurufen“, ihnen ihr Vergehen „väterlich mahnend an das Herz zu legen“ und sie zu Reue und Umkehr zu ermahnen. Beim dritten und vierten „Fall“ war dem Ordinariat Anzeige zu machen und dessen nähere Weisung zu erwarten.

So entstanden beim Erzbischöflichen Ordinariat von den 1830er bis in die 1890er Jahre 298 Akten. Sie betreffen ausschließlich die ledigen Mütter, die fast alle vom Land stammten. Sie enthalten Daten zu den Müttern, den Vätern (soweit bekannt) und den Kindern, die Niederschrift über die pfarramtliche Vorladung und Verwarnung sowie nicht selten weitere Angaben von Seiten des Pfarrers. Sie erlauben somit tiefe Einblicke in die soziale Wirklichkeit der Zeit.

Exemplarisch ist der ‚Fall‘ der Bauerstochter Ursula Huber aus der Pfarrei Truchtlaching (Dekanat Haslach). Als Hoferbin war sie eine ‚gute Partie‘ und sie ging – wohl jeweils mit dem Ziel der Anbahnung einer standesgemäßen Ehe – nacheinander sexuelle Beziehungen mit drei Bauernsöhnen ein, denen fünf uneheliche Kinder entsprangen. 1866 zeigte Pfarrvikar Anton Aigner sie anlässlich der Geburt des fünften Kindes beim Ordinariat an. Mit dem Vater ihrer jüngsten zwei Kinder lebe sie zwar nicht „in Gemeinschaftlichkeit des Bettes, wohl aber des Tisches und der Arbeit“. Der Generalvikar ordnete – entsprechend der üblichen Vorgehensweise – an, Huber vorzuladen, sie in Anwesenheit zweier „christliche[r] Männer“ zur Umkehr und zur Beichte aufzufordern und zu ermahnen, ihre Beziehung aufzugeben, jede Gelegenheit zur Sünde zu meiden und sich ehestmöglich „in einen ordentlichen Dienst bei christlichen Hausleuten“ zu verdingen. Für den Fall eines „Rückfalls“ sei mit der Exkommunikation zu drohen. Ursula Huber zeigte sich reumütig und versprach, „sich zu bessern“. Nur wegziehen könne sie sich nicht, da ihr das elterliche Anwesen bereits übergeben sei.

Bald darauf heiratete Ursula Huber ihren Geliebten und Nachbarn Jakob Huber. Sie brachte noch vier weitere, eheliche Kinder zur Welt, bis sie 1873 mit 40 Jahren am Kindbettfieber starb.

Archiv des Erzbistums München und Freising, Allgemeiner Geistlicher Rat und Generalvikariat (bis 1944), Realia, BB001/1, R108 [Bild 25-27]

 

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