Ein neues Proletariat
Während alle Welt über die Finanzkrise und ihr Übergreifen auf den Rest der Wirtschaft spricht und während in den Talkrunden des Hörfunks und Fernsehens darüber gerätselt wird, ob wir in Deutschland im kommenden Jahr mit einem Rückgang der wirtschaftlichen Leistung von bis zu vier Prozent rechnen müssen oder doch mit einem von knapp einem Prozent davonkommen, ist ein nicht kleiner Teil unserer Gesellschaft bereits am Nullpunkt angelangt.
Die Krise hat längst ein Gesicht. Ich meine nicht die betretenden Gesichter der Manager, die bis vor kurzem jede staatliche Regulierung als Störung des wunderbaren Regelwerkes des Marktes gebrandmarkt haben, jetzt aber nach dem Staat, das heißt nach den Milliarden des Steuerzahlers rufen. Nein, die Krise ist unten angekommen bei den Leiharbeitern. Sie sind diejenigen, welche die gepriesene Flexibilisierung des Arbeitsmarktes gegenwärtig erleiden.
Irgendwann in den Novemberwochen hat man aufgehört mitzuzählen, wie viele Unternehmen sich von den Leiharbeitern trennen, und zwar von Tausenden, ja manchmal von mehr als Zehntausend. Worüber sollte man sich mehr wundern? Darüber, wie hoch in vielen Unternehmen der Anteil der Leiharbeiter geworden ist, die mit minderen Rechten ausgestattet sind und in der Regel für geringeren Lohn die gleiche Arbeit verrichten wie die Mitglieder der Stammbelegschaft. Von wegen, dass nur die Auftragsspitzen durch Leiharbeit aufgefangen werden. Oder soll man sich mehr über die Geräuschlosigkeit wundern, mit der sich das alles vollzieht? Die Unternehmen kündigen an, dass sie vorerst nicht an betriebsbedingte Kündigungen denken. Das heißt im Klartext, die da gehen, gehören nicht zu uns. So bleibt es auch in den Betrieben ruhig. Die Betriebsräte und Gewerkschaften schweigen. Den Firmen droht kein Imageschaden. Es stehen weder Abfindungen noch Sozialpläne an.
Flexibilisierung heißt also, dass die Unternehmen flexibel reagieren können und dass man die Probleme derjenigen außer Acht lassen kann, welche die Last der Flexibilisierung tragen. Über sie spricht niemand. Die Spaltung, die sich innerhalb der Arbeitnehmerschaft auftut, wird ausgeblendet. Unsere Gesellschaft hat sich unter der Hand eine Verfügungsmasse von Arbeitskräften verschafft, die anzutreten haben, wenn sie gebraucht werden, und lautlos verschwinden, wenn sie überflüssig sind. Die Gesellschaft verfügt über ein neues Proletariat.